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Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand, den Rücken

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zum Fenster gekehrt. Am gescheitesten, ich schlafe überhaupt nicht, entschied er. Vom Fenster zog es übrigens feucht und kalt herein; ohne aufzustehen, zog er die Decke zu sich heran und hüllte sich in sie ein. Die Kerze brannte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte auch an nichts denken; aber ein Fiebertraum jagte den andern; Gedankenfetzen fuh-ren ihm durch den Kopf, ohne Anfang und Ende und ohne Zusammenhang. Er schien in eine Art Halbschlummer zu versinken. Ob es die Kälte war oder das Dunkel, die Feuch-tigkeit oder der Wind, der vor dem Fenster heulte und die Bäume zur Erde bog, was immer es war, das in ihm diese hartnäckige, phantastische Neigung und diesen Wunsch er-weckte – aber er mußte die ganze Zeit über an Blumen denken. Er sah eine herrliche blühende Landschaft vor sich; es war ein heller, warmer, fast heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingstfeiertag. Ein reiches, luxuriöses Landhaus im englischen Stil stand vor seinem Blick, umgeben von duftenden Blumen-rabatten, blühende Beete zogen sich rings um das ganze Haus; die Freitreppe war eingerahmt von Rosenbeeten und umwun-den von Schlingpflanzen; es war eine helle, kühle Treppe, mit einem luxuriösen Teppich belegt, und zu beiden Seiten standen seltene Blumen in chinesischen Vasen. An den Fenstern fielen ihm besonders Sträuße von zarten weißen Narzissen auf. Sie standen in mit Wasser gefüllten Vasen, neigten sich auf ihren hellgrünen, dicken, langen Stengeln und verströmten einen starken aromatischen Duft. Er hatte gar keine Lust, von ihnen wegzugehen, aber er stieg die Treppe hinauf und trat in einen großen, hohen Saal, und auch hier gab es überall, an den Fenstern, vor der Tür, die auf die Terrasse hinausführte, auf der Terrasse selbst, überall, überall Blumen. Der Boden war mit frischgemähtem duftendem Gras bestreut; die Fen-ster standen offen, eine frische, leichte, kühle Luft drang in das Zimmer; vor den Fenstern zwitscherten Vögel, und in der Mitte des Saales stand auf einem Tisch, der mit weißem Atlas verhängt war, ein Sarg. Dieser Sarg war mit schwerer weißer Seide ausgeschlagen und mit breiten Rüschen aus wei-ßem Tüll verziert. Blumengirlanden zogen sich an allen Seiten hin. Ganz mit Blumen zugedeckt, lag darin ein Mädchen in

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einem weißen Tüllkleid, die wie aus Marmor gemeißelten Hände über der Brust gefaltet. Aber ihr gelöstes hellblondes Haar war naß; ein Kranz von Rosen lag auf ihrem Kopf. Das strenge, schon erstarrte Profil ihres Gesichts schien eben-falls aus Marmor gemeißelt zu sein, doch das anklagende Lächeln, das ihre fahlen Lippen umspielte, war erfüllt von einem unkindlichen, namenlosen Jammer. Swidrigailow kannte das Mädchen; kein Heiligenbild, keine brennenden Kerzen standen an ihrem Sarg, und man hörte keine Gebete. Sie hatte Selbstmord begangen – sie war ins Wasser ge-sprungen. Sie zählte erst vierzehn Jahre, aber ihr Herz war schon gebrochen, und sie hatte selbst Hand an sich gelegt, aus Kummer über eine Kränkung, die dieses junge, kindliche Ge-müt entsetzt und verstört hatte, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schmach beschmutzt und ihr den letzten Schrei der Verzweiflung abgerungen hatte, einen ungehörten und frech verhöhnten Schrei in finsterer Nacht, im Dunkel, in der Kälte, im feuchten Tauwetter, als der Wind heulte ...

Swidrigailow kam zu sich, stand auf und ging zum Fen-ster. Er tastete nach dem Fenstergriff und öffnete es. Der Wind drang in wildem Ungestüm in das schmale Kämmerchen und schien ihm das Gesicht und die nur mit dem Hemd bekleidete Brust mit kaltem Reif zu überziehen. Unter dem Fenster lag wohl wirklich eine Art Garten, offenbar ebenfalls ein Vergnügungsgarten; wahrscheinlich wurde auch hier unter-tags von einem Chor gesungen, und man servierte Tee auf den kleinen Tischen. Jetzt spritzten Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern durchs Fenster; es war finster wie in einem Keller, so daß man nur mit Mühe die einzelnen Gegenstände als dunkle Flecke zu unterscheiden vermochte. Swidrigailow beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und starrte nun schon fünf Minuten lang unver-wandt in dieses Dunkel. In der finsteren Nacht krachte plötz-lich ein Kanonenschuß, gleich darauf ein zweiter.

Ah, das Signal! Das Wasser steigt! dachte er. Gegen Mor-gen wird es in den tiefer gelegenen Stadtteilen die Straßen überfluten und die Keller und Souterrains überschwemmen; die Kellerratten kommen hervor, und in Regen und Sturm

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beginnen die Menschen fluchend und durchnäßt ihren Kram in die höheren Stockwerke zu schleppen ... Aber wieviel Uhr ist es jetzt? Kaum hatte er das gedacht, schlug irgendwo in der Nähe schnarrend, und als ob sie sich nach besten Kräften beeilte, eine Wanduhr drei. Ah, in einer Stunde wird es schon hell! Warum länger warten? Ich gehe und laufe geradenwegs zum Petrowskij-Park; dort suche ich mir ir-gendwo einen großen, vom Regen nassen Strauch, so daß ich nur mit der Schulter daran zu streifen brauche, und Millionen Tropfen sprühen mir über den Kopf ... Er trat vom Fenster zurück, schloß es, machte Licht, zog Weste und Mantel an, setzte sich den Hut auf und trat in den Korridor, um den abgerissenen Hausdiener, der wohl irgendwo in seinem Käm-merchen zwischen allerlei Kram und Kerzenstummeln schlief, zu suchen, ihm für das Zimmer zu zahlen und den Gasthof zu verlassen. Jetzt ist der beste Augenblick; einen besseren kann ich mir gar nicht aussuchen!

Lange lief er den schmalen Korridor auf und ab, ohne je-manden zu finden; er wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Tür, einen seltsamen Gegenstand entdeckte, etwas, das zu leben schien. Er bückte sich mit seiner Kerze und sah ein Kind – ein kleines Mädchen von höchstens fünf Jahren in einem wie ein Scheuerlappen nassen Kleidchen, zitternd und weinend. Die Kleine erschrak anscheinend gar nicht vor Swidrigailow, sondern blickte ihn nur aus großen schwarzen Augen in stumpfem Staunen an und schluchzte bisweilen auf wie ein Kind, das lange Zeit geweint hat, jetzt aber bereits aufhört und sogar getröstet ist und nur von Zeit zu Zeit noch einmal aufschluchzt. Das Gesichtchen der Kleinen war blaß und abgezehrt; sie war ganz steif vor Kälte, aber ... wie kam sie denn hierher? Sie hatte sich hier wohl versteckt und die ganze Nacht nicht geschlafen. Er fragte sie aus. Das Mädchen wurde mit einem Schlag lebhaft und plapperte sofort in ih-rem kindlichen Kauderwelsch hastig los. Da kam etwas von einer Mama vor, und daß sie von ihrer Mama Prügel bekom-men werde wegen irgendeiner Schale, die sie zerbrochen habe. Das Mädchen sprach ohne Pause; aus dem, was sie erzählte,

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konnte er erraten, daß sie ein ungeliebtes Kind war, das von seiner Mutter, einer ewig besoffenen Köchin – wahrschein-lich arbeitete sie hier im Hotel –, unaufhörlich geprügelt wurde und schon ganz verängstigt war. Die Kleine hatte an-scheinend eine Schale zerbrochen, die ihrer Mutter gehörte, und war nun so verschreckt, daß sie schon am Abend davon-gelaufen war; wahrscheinlich hatte sie sich lange Zeit ir-gendwo auf dem Hof, im Regen, verborgen gehalten, war aber schließlich hierhergeschlüpft, hatte sich hinter dem Schrank verkrochen und die ganze Nacht hier in der Ecke gesessen, weinend und zitternd vor Kälte, aus Furcht vor der Dunkel-heit und aus Angst, daß man sie jetzt fürchterlich verprügeln werde. Er nahm sie auf den Arm, ging in sein Zimmer zurück, setzte sie auf das Bett und begann sie auszuziehen. Ihre zer-rissenen Schuhe, die sie an den nackten Füßen trug, waren so naß, als hätten sie die ganze Nacht in einer Pfütze gelegen. Nachdem er sie ausgezogen hatte, legte er sie ins Bett, deckte sie zu und zog ihr die Decke bis über den Kopf. Sie schlief sofort ein. Als er fertig war, versank er von neuem in dü-steres Grübeln.