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Das war wieder ein glänzender Einfall, mir das aufzuhal-sen! dachte er plötzlich mit einem drückenden, bösen Gefühl. Was für ein Unsinn! Ärgerlich nahm er die Kerze; er wollte um jeden Preis den zerlumpten Hausburschen auf treiben und den Gasthof so rasch wie möglich verlassen. Ach, dieses Mäd-chen, dachte er mit einem Fluch, als er schon die Tür öffnete, doch machte er noch einmal kehrt, um nach dem Kind zu sehen, ob es schlafe und wie es schlafe. Vorsichtig hob er die Decke. Die Kleine schlummerte fest und selig. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre vorher so bleichen Wangen hatten wieder Farbe bekommen. Doch sonderbar: dieses Rot schien greller und stärker zu sein, als es für gewöhnlich auf Kinderbacken leuchtet. Das ist wie Fieberröte, dachte Swi-drigailow; das ist wie die Röte nach Alkoholgenuß, als hätte man ihr ein ganzes Glas Wein zu trinken gegeben. Die roten Lippen schienen zu brennen und zu lodern. Aber was ist denn das? Plötzlich kam es ihm so vor, als ob die langen schwarzen Wimpern erzitterten und blinzelten und sich hö-

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ben, und darunter sahen listige, scharfe, irgendwie ganz un-kindlich zwinkernde Augen hervor, als schliefe das Mädchen gar nicht, sondern stellte sich nur schlafend. Wahrhaftig, so war es: ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln; die Mund-winkel zuckten, als hielte sie sich noch zurück. Doch jetzt gab sie es auf: da war schon ein Lachen, ein deutliches Lachen; etwas Freches und Herausforderndes schimmerte in diesem ganz und gar unkindlichen Gesicht auf; das war das Gesicht einer Dirne, das dreiste Gesicht einer käuflichen französi-schen Hure. Jetzt verbarg sie sich nicht mehr und öffnete beide Augen; diese umfingen ihn mit einem feurigen, scham-losen Blick; sie lockten ihn; sie lachten ... Etwas unendlich Häßliches, Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen abscheulichen Ausdruck des Gesich-tes einer Dirne. Wie! Eine Fünfjährige! flüsterte Swidrigailow entsetzt. Was ... was hat das zu bedeuten? Jetzt wandte sie ihm das feuerrote Gesichtchen voll zu, sie streckte die Arme aus ... Ach, du Verfluchte! rief Swidrigailow voll Grauen und hob die Hand gegen sie ... doch in diesem Augen-blick erwachte er.

Er lag noch immer auf dem Bett, so wie vorhin in die Decke gewickelt; die Kerze brannte nicht, und draußen schimmerte schon der helle Tag.

Albträume die ganze Nacht! Er erhob sich böse und fühlte sich ganz zerschlagen; sämtliche Knochen taten ihm weh. Draußen lag dichter Nebel, und es war nichts zu er-kennen. Es mußte nahezu fünf Uhr sein; er hatte sich ver-schlafen! Er stand auf und zog sich Jacke und Mantel an, die noch feucht waren. Als er in der Tasche den Revolver spürte, nahm er ihn heraus und brachte die Zündkapsel in Ordnung, dann setzte er sich, zog sein Notizbuch hervor und schrieb auf die erste Seite, an die auffälligste Stelle, mit großen Zügen einige Zeilen. Nachdem er sie noch einmal überlesen hatte, dachte er nach, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Der Revolver und das Notizbuch lagen neben seinem Arm. Die Fliegen, die mittlerweile erwacht waren, hatten sich auf die unberührte Portion Kalbfleisch gesetzt, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Lange Zeit sah er sie an und versuchte, mit

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der freien rechten Hand eine zu erhäschen. Er gab sich die größte Mühe, konnte aber keine fangen. Als er schließlich innewurde, mit was für einer interessanten Tätigkeit er da beschäftigt war, kam er zur Besinnung; er fuhr zusammen, stand auf und verließ entschlossen das Zimmer. Eine Minute später stand er auf der Straße.

Milchweißer dichter Nebel lag über der Stadt. Swidrigai-low ging über das schlüpfrige, schmutzige Holzpflaster und schlug die Richtung zur Kleinen Newa ein. Er dachte an das über Nacht gestiegene Wasser der Kleinen Newa, an die Pe-trowskij-Insel, an die nassen Gartenwege, das nasse Gras, die nassen Bäume und Büsche und schließlich an ebenjenen Strauch ... Ärgerlich begann er die Häuser zu betrachten, damit er auf andere Gedanken käme. Kein Fußgänger, keine Droschke begegnete ihm auf dem X.-Prospekt. Demütig und schmutzig sahen die hellgelben Holzhäuschen mit ihren geschlossenen Fensterläden aus ... Kälte und Feuchtigkeit durchdrängen seinen ganzen Körper, und es begann ihn zu frösteln. Von Zeit zu Zeit stieß er auf die Aushängeschilder von Krämern und Gemüsehändlern, und jedes Schild las er sorgfältig durch. Jetzt war das hölzerne Pflaster zu Ende. Schon stand er vor einem großen steinernen Haus. Ein schmut-ziger Köter lief ihm, vor Kälte zitternd und mit eingezoge-nem Schwanz, über den Weg. Ein stockbesoffener Kerl in einem langen Mantel lag mit dem Gesicht auf dem Boden quer über den Bürgersteig. Swidrigailow sah ihn an und ging weiter. Linker Hand kam ein hoher Feuerwehrturm in Sicht.

Ah! dachte er, hier ist der richtige Ort, wozu die Petrow-skij-Insel? Wenigstens habe ich auf diese Weise einen offiziel-len Zeugen ...

Er lächelte beinahe über diesen neuen Gedanken und bog in die N.-Straße ein. Dort stand ein großes Haus mit einem Feuerwehrturm. Vor dem mächtigen Tor, das noch ge-schlossen war, stand, mit der Schulter dagegengelehnt, ein kleines Männchen, in einen grauen Soldatenmantel gehüllt und jenen Messinghelm auf dem Kopf, den man Achilleshelm nennt. Mit verschlafenem Blick schielte er gleichgültig auf den näherkommenden Swidrigailow. Sein Gesicht spiegelte jenen

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uralten, verdrießlichen Gram wider, der ausnahmslos allen Gesichtern des jüdischen Stammes ein so säuerliches Ge-präge verleiht. Beide, Swidrigailow und Achilles, musterten einander schweigend eine ganze Weile. Achilles schließlich fand es nicht in der Ordnung, daß jemand, der nicht betrun-ken war, drei Schritt vor ihm stand, ihn starr ansah und nichts sagte.

»He, was wollen Se hier?« fragte er, rührte sich aber nicht vom Fleck und änderte auch nicht seine Haltung.

»Nichts, mein Lieber; guten Morgen!« erwiderte Swidri-gailow.

»Hier haben Se nichts zu suchen!«

»Ich verreise in fremde Länder, mein Lieber.«

»In fremde Länder?«

»Nach Amerika.«

»Nach Amerika?«

Swidrigailow zog den Revolver und spannte den Hahn. Achilles hob die Brauen.

»He, was machen Se? Für solche Spaße ist hier kein Platz!«

»Warum soll hier kein Platz dafür sein?«

»Weil kein Platz dafür ist.«

»Nun, mein Lieber, das ist mir ganz egal. Der Platz ist so-gar recht gut; wenn man dich ausfragt, dann sage, ich wäre nach Amerika gefahren.«

Er setzte den Revolver an die rechte Schläfe.

»He, das dürfen Se nicht, hier ist kein Platz dafür!« rief Achilles, während er die Augen weiter und weiter aufriß.

Swidrigailow drückte ab.

7

Am selben Tag, allerdings erst abends gegen sieben Uhr, ging Raskolnikow zur Wohnung seiner Mutter und seiner Schwester – zu ebenjener Wohnung im Hause Bakalejew, wo Rasumichin die beiden untergebracht hatte. Der Zugang zur Treppe lag gleich auf der Straße. Unterwegs verlangsamte Raskolnikow immer wieder den Schritt und schien zu

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schwanken, ob er hingehen solle oder nicht. Aber um keinen Preis wäre er umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. Außer-dem ist es ganz gleich; sie wissen ja noch nichts, dachte er, und sind daran gewöhnt, mich für einen Sonderling zu halten ... Sein Anzug sah entsetzlich aus: er war über und über schmut-zig, da Raskolnikow die ganze Nacht im Regen verbracht hatte, und zerrissen und zerfetzt. Sein Gesicht war geradezu entstellt; die Müdigkeit, das Unwetter, die körperliche Er-schöpfung und der Kampf, den er fast schon durch vierund-zwanzig Stunden mit sich selbst ausfocht, hatten ihre tiefen Spuren darin eingegraben. Die ganze Nacht hatte er, Gott weiß wo, allein verbracht. Doch war er jetzt wenigstens zu einem Entschluß gekommen.