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geführt werden; ich wartete auf etwas, ich ahnte etwas, und jetzt ist es eingetroffen! Rodja, Rodja, wo gehst du hin? Verreist du am Ende?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir! Aber ich kann ja mit dir reisen, wenn du mich brauchst. Auch Dunja würde dich begleiten; sie liebt dich, sie liebt dich über alles, und meinetwegen soll auch, wenn es sein muß, Sofja Semjonowna mitkommen; siehst du, ich würde sie sogar gern als Tochter aufnehmen. Dmitrij Pro-kofjitsch wird uns helfen, daß wir alle beisammen bleiben ... Aber ... wohin ... wirst du reisen?«

»Leben Sie wohl, Mama!«

»Wie? Heute schon?« schrie sie auf, als müßte sie ihn für immer verlieren.

»Ich kann nicht mehr; es ist Zeit für mich; ich muß unbe-dingt ...»

»Und ich kann nicht mit dir kommen?«

»Nein; aber Sie sollen auf den Knien für mich beten. Ihre Gebete werden vielleicht erhört.«

»Komm, laß dich bekreuzigen, laß dich segnen, siehst du, so, so! O Gott, was sollen wir nur anfangen!«

Ja, er freute sich, er freute sich sehr, daß niemand da war, daß er mit seiner Mutter allein sein konnte. Es schien, als wäre sein Herz nach all dieser grauenvollen Zeit mit einem-mal wieder weich geworden. Er fiel vor Pulcheria Alexan-drowna nieder; er küßte ihr die Füße, und beide hielten ein-ander umarmt und weinten. Und diesmal wunderte sie sich nicht mehr und stellte ihm keine Fragen. Schon lange hatte sie erkannt, daß mit ihrem Sohn etwas Entsetzliches geschah, und jetzt war irgendein furchtbarer Augenblick für ihn ge-kommen.

»Rodja, mein Liebster, mein Erstgeborener«, sagte sie schluchzend, »jetzt bist du genauso, wie du als Kind warst ... da kamst du ebenso zu mir und umarmtest und küßtest mich; noch als dein Vater lebte, tröstetest du uns, wenn wir Kummer hatten, allein schon dadurch, daß du bei uns warst; und als ich deinen Vater begraben hatte, wie oft wein-ten wir da, wenn wir an seinem Grab einander so umarmt

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hielten wie jetzt! Und daß ich so lange schon weine, liegt daran, daß mein Mutterherz ein Unglück vorausahnte. Als ich dich zum erstenmal wiedersah, weißt du noch, am selben Abend, da wir hier angekommen waren, erkannte ich alles an deinem Blick, und mein Herz zitterte; und als ich dir heute die Tür öffnete, sah ich dich an und dachte: Offenbar ist die Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du verreist doch nicht gleich?«

»Nein.«

»Kommst du noch einmal wieder?«

»Ja ... ich komme wieder.«

»Rodja, sei mir nicht böse, ich wage ja gar nicht dich aus-zufragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf; aber sag mir doch, sag es mir nur in zwei kurzen Worten: fährst du weit weg?«

»Sehr weit.«

»Und was erwartet dich dort? Eine Anstellung? Eine Kar-riere?«

»Was Gott gibt ... Nur beten Sie für mich!«

Raskolnikow ging zur Tür, doch die Mutter klammerte sich an ihn und sah ihm mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt.

»Genug, Mama!« sagte Raskolnikow. Er bereute zutiefst, daß er seiner Eingebung gefolgt und hierhergekommen war.

»Es ist doch nicht für immer? Es ist doch noch nicht für immer? Du kommst doch wieder? Morgen?«

»Ich komme wieder, ich komme wieder, leben Sie wohl.«

Endlich konnte er sich losreißen.

Der Abend war frisch, aber warm und klar; das Wetter hatte sich schon am Vormittag aufgeheitert. Raskolnikow ging in seine Wohnung; er war in Eile. Er wollte alles noch vor Sonnenuntergang zu Ende bringen und mochte vorher nie-mandem mehr begegnen. Während er zu seinem Zimmer hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja von ihrem Samowar aufblickte und ihm unverwandt nachsah.

Es wird doch niemand bei mir sein? überlegte er. Voll Abscheu dachte er an Porfirij. Doch als er sein Zimmer er-reicht und die Tür geöffnet hatte, erblickte er Dunjetschka. Sie saß ganz allein in tiefem Sinnen da und schien schon

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lange auf ihn gewartet zu haben. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschrocken vom Diwan und richtete sich vor Raskolnikow auf. Ihr Blick, unbeweglich auf ihn gerich-tet, zeigte Entsetzen und untröstliches Leid. An diesem Blick allein schon erkannte er sofort, daß sie alles wußte.

»Darf ich zu dir kommen, oder soll ich weggehen?« fragte er mißtrauisch.

»Ich habe heute den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna zugebracht; wir haben auf dich gewartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin ziemlich schwach, Dunja; ich bin sehr müde; und ich möchte mich doch so gerne wenigstens in diesem Augen-blick ganz in der Gewalt haben.«

Mißtrauisch blickte er sie an.

»Wo warst du die letzte Nacht?« fragte sie.

»Ich erinnere mich nicht genau; weißt du, Schwester, ich wollte einen endgültigen Entschluß fassen und ging immer wieder die Newa auf und ab, daran erinnere ich mich. Dort wollte ich allem ein Ende machen, aber .. . ich konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er, während er Dunja aber-mals mißtrauisch ansah.

»Gott sei gelobt! Und wie haben Sofja Semjonowna und ich gerade das befürchtet! Du glaubst also noch ans Leben? Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Ich war nie gläubig, aber jetzt haben Mutter und ich mit-einander geweint, und wir haben einander umarmt; ich bin nicht gläubig, aber trotzdem habe ich zu ihr gesagt, sie möge für mich beten. Gott weiß, wie das kommt, Dunjetschka – ich verstehe nichts davon.«

»Du warst bei Mutter? Hast du es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt. »Hast du es wirklich über dich gebracht, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe ihr nichts gesagt ... nicht mit Worten; doch hat sie vieles begriffen. Sie hat dich heute nacht phan-tasieren hören. Ich bin überzeugt, daß sie die Hälfte schon

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verstanden hat. Vielleicht tat ich nicht gut daran, zu ihr zu gehen. Ich weiß nicht einmal mehr, wozu ich hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«

»Ein gemeiner Mensch, aber dennoch bereit, dein Leid auf dich zu nehmen! Das wirst du doch?«

»Ja. Jetzt gleich. Um dieser Schande zu entrinnen, wollte ich ins Wasser gehen, Dunja, doch als ich bereits am Wasser stand, dachte ich, ich dürfe, wenn ich mich schon bisher für stark gehalten hätte, jetzt auch die Schande nicht fürchten«, sagte er. »Das ist Stolz, Dunja.«

»Ja, Rodja, das ist Stolz.«

Es war, als blitzte in seinen erloschenen Augen ein Feuer auf; es schien ihm angenehm zu sein, daß er noch stolz sein konnte.

»Du glaubst doch nicht, Schwester, daß ich einfach Angst vor dem Wasser gehabt hätte?« fragte er und sah ihr mit einem häßlichen Lächeln ins Gesicht.

»Ach, Rodja, laß das!« rief Dunja bitter.

Etwa zwei Minuten lang schwiegen beide. Er saß mit ge-senktem Kopf da und starrte zu Boden; Dunjetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte ihn voll Qual an. Plötzlich stand er auf.

»Es wird spät, es ist Zeit! Ich gehe jetzt, um mich zu stel-len. Aber ich weiß nicht, weshalb ich das tue.«

Große Tränen rollten ihr über die Wangen.

»Du weinst, Schwester – aber kannst du mir noch die Hand reichen?«