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Er legte sich diese Frage seit dem gestrigen Abend viel-leicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch seinen Weg.

8

Als er zu Sonja kam, begann es schon zu dämmern. Den ganzen Tag hatte sie gemeinsam mit Dunja in entsetzlicher Erregung auf ihn gewartet. Dunja war schon am Morgen ge-kommen, da ihr eingefallen war, daß Swidrigailow gesagt hatte, Sonja wisse alles. Wir wollen das Gespräch der beiden Frauen und ihre Tränen nicht im einzelnen schildern, auch nicht, wie sehr sie einander näherkamen. Dunja nahm aus die-sem Beisammensein wenigstens den einen Trost mit, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: ihr, Sonja, hatte er zuerst ge-beichtet; in ihr hatte er einen Menschen gesucht, als er einen Menschen dringend brauchte; und sie folgte ihm gewiß, wohin ihn das Schicksal auch verschlug. Dunja stellte keine Fragen, aber sie wußte, daß es so sein werde. Sie betrachtete Sonja ge-radezu mit einer Art Ehrfurcht und verwirrte sie anfangs bei-nahe durch die Hochachtung, die sie ihr entgegenbrachte. Sonja war den Tränen nahe; sie hielt sich ganz im Gegenteil für unwürdig, Dunja auch nur anzusehen. Das herrliche Bild,

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wie sich Dunja bei ihrer ersten Begegnung in Raskolnikows Wohnung so aufmerksam und achtungsvoll vor ihr verneigt hatte, hatte sich für immer Sonjas Seele eingeprägt als das Schönste und Unbegreiflichste, das ihr in ihrem Leben je widerfahren war.

Dunja hielt es schließlich nicht mehr aus und verließ Sonja, um den Bruder in dessen Wohnung zu erwarten; sie dachte, daß er zunächst dorthin gehen werde. Sobald Sonja allein war, begann sie sich mit dem schrecklichen Gedanken zu quälen, daß er vielleicht wirklich Selbstmord begangen haben könnte. Das hatte auch Dunja befürchtet. Aber beide hatten einander den ganzen Tag lang um die Wette mit allen Argumenten davon zu überzeugen gesucht, daß das gar nicht möglich sein konnte, und solange sie beisammen waren, fühlten sie sich ruhiger. Jetzt jedoch begannen beide, kaum daß sie sich ge-trennt hatten, nur an dieses eine zu denken. Sonja erinnerte sich, wie Swidrigailow gestern zu ihr gesagt hatte, Raskol-nikow stünden nur noch zwei Wege offen: die Wladimirka oder ... Außerdem kannte sie seinen hochfahrenden Stolz, seine Eitelkeit und seinen Unglauben.

Können ihn denn wirklich nur Kleinmut und die Angst vor dem Tode dazu bewegen, am Leben zu bleiben? fragte sie sich zuletzt verzweifelt. Unterdessen begann die Sonne zu sinken. Traurig stand Sonja am Fenster und blickte, ohne eine Bewegung zu machen, hinaus – aber von ihrem Fenster aus war nur die ungetünchte Brandmauer des Nachbarhauses zu sehen. Endlich, als sie fast schon völlig vom Tode des Un-glücklichen überzeugt war, trat er ins Zimmer.

Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Doch als sie ihm aufmerksam ins Gesicht sah, wurde sie plötzlich blaß.

»Nun ja«, sagte Raskolnikow lächelnd, »ich komme, um mir dein Kreuz zu holen, Sonja. Du selbst hast mich damals auf den Kreuzweg geschickt; hast du etwa jetzt, da es so weit ist, den Mut verloren?«

Sonja blickte ihn verwundert an. Sein Ton berührte sie seltsam; ein Kälteschauer lief ihr über den Rücken, doch so-gleich erriet sie, daß sowohl sein Ton wie seine Worte nur

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gespielt waren. Während er sprach, starrte er in eine Ecke, als wollte er es vermeiden, ihr offen ins Gesicht zu sehen.

»Weißt du, Sonja, ich habe mir überlegt, daß es so wohl vorteilhafter für mich ist. Da ist ein Umstand ... Nun ja, ich müßte zu weit ausholen, um dir das zu erzählen, und es ist auch völlig überflüssig. Aber weißt du, was mich vor allem erbittert? Mich erbittert, daß alle diese stumpfen, viehi-schen Fratzen mich jetzt umringen, mich mit ihren Glotz-augen unverwandt anstarren und mir ihre dummen Fragen stellen werden, auf die ich antworten muß – mit den Fin-gern wird man auf mich weisen ... Pfui! Weißt du, ich gehe nicht zu Porfirij; er hängt mir nachgerade zum Hals heraus. Lieber gehe ich zu meinem Freund Schießpulver; den kann ich in Erstaunen setzen, bei dem kann ich einen tollen Eindruck machen. Allerdings müßte ich möglichst kaltblütig auftreten, und seit neuestem läuft mir bei jeder Kleinigkeit schon die Galle über. Ob du es mir glaubst oder nicht: beinahe hätte ich eben meiner Schwester mit der Faust gedroht, nur weil sie sich umwandte, um mich ein letztesmal anzusehen. Es ist eine Schweinerei, so ein Zustand! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Also, wo sind die Kreuze?«

Er war offensichtlich völlig verstört. Er konnte nicht eine Minute ruhig stehenbleiben; auf keinen Gegenstand vermochte er seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren; seine Gedanken sprangen förmlich durcheinander; er redete Unsinn, seine Hände zitterten.

Schweigend holte Sonja zwei Kreuze aus ihrer Truhe: eines aus Zypressenholz und ein anderes aus Bronze. Sie bekreu-zigte sich und ihn und hängte ihm das Holzkreuz um den Hals.

»Das ist also das Symbol dafür, daß ich nun das Kreuz auf mich nehme, hehehe! Als ob ich bis jetzt zuwenig gelit-ten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz! Also schlicht und volkstümlich; das bronzene Kreuz, das Lisaweta gehört hat, nimmst du – zeig her! Sie trug es also ... in jenem Augenblick? Da fällt mir ein ähnliches Kreuz ein – es war aus Silber – und ein kleines Heiligenbild. Ich warf sie damals der Alten auf die Brust. Wahrhaftig, die beiden Sachen sollte ich mir

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jetzt umhängen ... sie paßten gerade ... Aber was rede ich die ganze Zeit für Unsinn; ich vergesse ganz, weshalb ich hergekommen bin; ich bin seltsam zerstreut! ... Siehst du, Sonja – ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, daß es jetzt so weit ist; du sollst es wissen ... Das wäre alles ... nur deshalb bin ich zu dir gekommen. Hm! Ich dachte, ich würde dir mehr sagen. Du wolltest ja selbst, daß ich hinginge und mich stellte, und nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch geht in Erfüllung; weshalb weinst du also? Auch du weinst? Hör auf; laß es genug sein; ach, wie sehr mich das alles quält!«

Doch ein Gefühl regte sich in ihm; das Herz preßte sich ihm zusammen, als er sie ansah. Und sie, was will sie? dachte er. Was bedeute ich ihr? Weshalb weint sie, weshalb sorgt sie sich um mich wie Mutter oder Dunja? Sie will wohl Kinder-mädchen bei mir spielen? ...

»Bekreuzige dich, bete, bete wenigstens dieses eine Mal!« flehte Sonja ihn mit zitternder, zaghafter Stimme an.

»Oh, bitte sehr, soviel du nur willst! Aus ganzem Herzen will ich beten, Sonja, aus ganzem Herzen ...«

Er hatte etwas ganz anderes sagen wollen.

Er schlug einige Male das Kreuz. Sonja nahm ihr Tuch und band es sich um den Kopf. Es war ein grünes Wolltuch, wahr-scheinlich jenes, das Marmeladow seinerzeit erwähnt und das er das »Familientuch« genannt hatte. Das fuhr Raskolnikow durch den Kopf, doch fragte er nicht. Wirklich spürte er all-mählich selbst, wie furchtbar zerfahren und nahezu schrecklich aufgeregt er war. Er erschrak darüber. Plötzlich erschütterte es ihn auch, daß Sonja mit ihm gehen wollte.

»Was tust du? Wohin willst du? Bleib hier, bleib! Ich gehe allein!« rief er verzagt und ärgerlich und wandte sich beinahe zornig zur Tür. »Wozu brauche ich ein ganzes Ge-folge!« murmelte er im Weggehen.

Sonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte sich von ihr nicht einmal verabschiedet; er hatte sie schon vergessen; ein einziger bitterer, empörter Zweifel zerriß ihm die Seele.

Ist es auch richtig, ist es richtig? fragte er sich von neuem, als er die Treppe hinabstieg. Ist es denn wirklich nicht mehr

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möglich, innezuhalten und alles wieder in Ordnung zu brin-gen ... und nicht hinzugehen?

Aber er ging trotzdem. Plötzlich fühlte er, daß es ein für allemal keinen Sinn hatte, sich weitere Fragen zu stellen. Als er auf die Straße trat, fiel ihm plötzlich ein, daß er sich nicht von Sonja verabschiedet hatte, daß sie mit ihrem grünen Kopftuch mitten im Zimmer zurückgeblieben war und, weil er sie angeschrien hatte, es nicht gewagt hatte, sich zu regen; und er blieb einen Augenblick stehen. In dieser Sekunde durch-zuckte ihn plötzlich ein Gedanke wie ein greller Blitz – als hätte dieser Gedanke nur darauf gewartet, ihn endgültig zu vernichten.