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Weshalb und wozu bin ich jetzt zu ihr gegangen? Ich habe ihr gesagt, ich käme mit einem bestimmten Anliegen; aber was war das für ein Anliegen? Ich hatte doch überhaupt nichts bei ihr zu suchen! Ich wollte ihr erklären, daß ich hingehe; aber was sollte das? Das war doch ganz und gar überflüssig! Liebe ich sie etwa? Aber nein! Nein? Eben habe ich sie fortgejagt wie einen Hund. Habe ich etwa ihr Kreuz gebraucht? Oh, wie tief bin ich gesunken! Nein – ich brauchte ihre Tränen; ich mußte ihre Angst sehen, mußte sehen, wie ihr das Herz weh tat und wie sie sich quälte! Ich mußte mich wenigstens an irgend etwas klammern, mußte zögern, mußte einen Menschen sehen! Und ich, ich habe es gewagt, mich so ganz auf mich selbst zu verlassen, so große Dinge von mir zu erträumen ... Ich Bettler, ich jämmerlicher, erbärmlicher Lump!

Er lief den Kai am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Doch als er bei der Brücke angelangt war, blieb er stehen, bog plötzlich seitwärts auf die Brücke ab und schlug die Richtung zum Heumarkt ein.

Gierig sah er nach rechts und nach links; er verbohrte sich mit dem Blick angestrengt in jeden Gegenstand, konnte je-doch seine Aufmerksamkeit auf nichts konzentrieren; alles ent-glitt ihm. In einer Woche oder in einem Monat wird man mich in einem dieser Häftlingswagen irgendwohin hier über die Brücke fahren ... Wie werde ich dann auf den Kanal hinunterschauen – daran sollte ich mich erinnern! flog es ihm

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durch den Kopf. Hier dieses Schild ... wie werde ich dann dieselben Buchstaben lesen? Da steht »Gennossenschaft« ... dieses »n« sollte ich mir merken; wenn ich es dann nach einem Monat wiedersehe, wie wird mir da zumute sein? Was werde ich fühlen und denken? O Gott, wie niedrig! Muß denn das alles sein, all diese meine jetzigen ... Sorgen? Natürlich wird es in seiner Art ... interessant werden ... Hahaha! Was ich da alles zusammenphantasiere ... Ich werde zum Kind, ich tue vor mir selbst groß; nun, warum schäme ich mich meiner? Pfui, wie die Leute drängen! Zum Beispiel dieser Dicke – offenbar ein Deutscher –, der mich eben gestoßen hat: weiß er denn, wen er da stößt? Das Weib hier mit dem Kind bittet um Almosen; sie hält mich offenbar für glücklicher als sich – wie kurios! Na, der könnte ich des Spaßes halber eine Kleinigkeit geben. Aha, ein Fünfkopekenstück habe ich noch in der Tasche, woher nur? »Da ... nimm, meine Liebe!«

»Gott beschütze dich!« hörte er die Bettlerin leise sagen.

Er kam auf den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, höchst unangenehm, sich durch die Leute zu drängen, aber er ging gerade dorthin, wo möglichst viele Menschen beisammenstan-den. Er hätte alles auf Erden dafür gegeben, allein bleiben zu können; aber er fühlte selbst, daß er nicht imstande war, auch nur eine einzige Minute allein zu verbringen. Ein Be-trunkener vollführte allerhand Unfug in der Menge ... immer wieder wollte er tanzen, taumelte aber jedesmal zur Seite. Man stellte sich im Kreise um ihn auf. Raskolnikow drängte sich durch die Masse, betrachtete den Betrunkenen eine ganze Weile und lachte dann plötzlich kurz und abgerissen auf. Einen Augenblick später hatte er den Mann schon vergessen, ja, er sah ihn gar nicht mehr, obgleich er ihn noch immer anblickte. Schließlich entfernte er sich und wußte nicht einmal, wo er war; doch als er zur Mitte des Platzes kam, über-wältigte ihn eine plötzliche Regung; ein Gefühl packte ihn mit einemmal und nahm ihn ganz gefangen – Leib und Gedan-ken.

Unversehens erinnerte er sich an Sonjas Worte: »Stell dich an eine Straßenecke, verneige dich vor aller Welt, küsse die Erde, weil du auch sie geschändet hast, und sage laut vor allem

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Volke: Ich bin ein Mörder!« Er erzitterte am ganzen Leib, als er sich dessen entsann. Und der hoffnungslose Schmerz und die Unruhe dieser ganzen Zeit, besonders aber der letzten Stunden, lasteten so drückend auf ihm, daß er sich gerade-zu gierig in dieses frische, neue, volle Gefühl stürzte, das sich da vor ihm auftat. Wie ein Anfall hatte es ihn plötzlich gepackt; es war in einem einzigen Funken in ihm aufge-sprüht und hatte ihn jäh wie ein Feuer ganz erfaßt. Mit einem Schlag wurde alles in ihm weich und sanft, und die Tränen schössen ihm in die Augen. Er stürzte zu Boden ...

Er kniete mitten auf dem Platz nieder, neigte sich tief und küßte inbrünstig und voll Glück die schmutzige Erde. Er stand auf und verneigte sich ein zweitesmal.

»Der hat aber geladen!« bemerkte ein Bursche neben ihm.

Gelächter klang auf.

»Er pilgert nach Jerusalem, ihr Lieben, und nimmt jetzt Abschied von den Kindern und der Heimat; er verneigt sich vor aller Welt; er küßt die Residenzstadt St.Petersburg und ihren Boden«, fügte ein angeheiterter Mann aus dem Klein-bürgerstande hinzu.

»Noch ein ganz junges Bürschlein«, warf ein dritter ein.

»Und vornehm dazu!« bemerkte jemand in würdevollem Ton.

»Heutzutage kann man nicht mehr unterscheiden, wer vor-nehm ist und wer nicht.«

Alle diese Äußerungen und Reden hielten Raskolnikow zurück, und das Wort: Ich habe gemordet, das ihm schon auf der Zunge lag, erstarb in ihm. Doch nahm er alle diese Rufe ruhig hin und ging, ohne sich umzublicken, gerades-wegs durch die nächste Gasse zum Polizeirevier. Unterwegs glaubte er wie eine flüchtige Erscheinung eine vertraute Gestalt zu erblicken, doch er wunderte sich nicht darüber; er hatte schon geahnt, daß es so kommen werde. Als er sich auf dem Heumarkt zum zweitenmal zur Erde verneigt und sich nach links gewandt hatte, hatte er in etwa fünfzig Schritt Entfernung Sonja stehen sehen. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Platze standen – offenbar hatte sie ihm auf seinem ganzen

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kummervollen Weg das Geleit gegeben! In diesem Augen-blick fühlte und erkannte Raskolnikow ein für allemal, daß Sonja von jetzt an für immer bei ihm sein und ihm selbst bis ans Ende der Welt folgen werde, wohin sein Schicksal ihn auch verschlagen mochte. Sein Herz drehte sich um ... aber da hatte er schon das verhängnisvolle Gebäude erreicht.

Ziemlich gefaßt betrat er den Hof. Er mußte ins dritte Stockwerk hinauf. Vorläufig gehe ich nur die Treppe hinauf, dachte er. Überhaupt schien ihm, als wäre es noch weit bis zu jenem verhängnisvollen Augenblick, als bliebe ihm noch viel Zeit bis dahin, so daß er noch vieles überlegen konnte.

Wieder der gleiche Schmutz, die gleichen Abfälle auf der Wendeltreppe, wieder die weit geöffneten Wohnungstüren, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank her-ausdrangen. Raskolnikow war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine waren wie taub und knickten ein, doch sie liefen weiter. Er blieb einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen und sich zurechtzumachen, damit er wie ein Mensch eintrete. Aber wozu? Weshalb? dachte er plötzlich, als er sich seines Tuns bewußt wurde. Wenn ich diesen Kelch schon trin-ken muß, ist dann nicht alles andere gleichgültig? Je abscheu-licher ich aussehe, desto besser ist es! In seiner Phantasie tauchte für einen Augenblick die Gestalt Ilja Petrowitschs auf, des Leutnants »Schießpulver« ... Soll ich denn wirklich zu ihm gehen? Kann es nicht ein anderer sein? Soll ich mich am Ende an Nikodim Fomitsch wenden? Wenn ich umkehrte und zu dem Inspektor in die Wohnung ginge? Wenigstens verliefe dann alles in einer mehr privaten Atmosphäre ... Nein, nein! Zu Schießpulver, zu Schießpulver! Wenn ich den Kelch schon leeren muß, dann lieber gleich und auf einmal ...