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Lage, seine Armut und seine Hilflosigkeit gewesen; dazu sei der Wunsch gekommen, die ersten Schritte auf seinem Lebens-weg mit Hilfe von mindestens dreitausend Rubel zu sichern, die er bei dem Opfer zu finden gehofft hatte. Den Entschluß, einen Mord zu begehen, habe er fassen können, da er von Natur einen leichtfertigen, schwachen Charakter besitze; außerdem sei er durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt gewesen. Auf die Frage, was ihn denn bewegen habe, sich freiwillig zu stellen, antwortete er unverzüglich, das sei aus aufrichtiger Reue geschehen. Alle diese Aussagen wirkten fast schon plump.

Das Urteil fiel jedoch milder aus, als man nach dem be-gangenen Delikt hätte erwarten können – vielleicht gerade deshalb, weil der Angeklagte kaum Anstrengungen machte, sich zu rechtfertigen, sondern es anscheinend geradezu dar-auf anlegte, sich noch mehr zu belasten. Alle die seltsamen und ungewöhnlichen Umstände des Falles wurden in Betracht gezogen. Die Krankheit und die jammervolle Lage des An-geklagten vor dem Verbrechen konnten nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Daß er von dem gestohlenen Gut kei-nen Gebrauch gemacht hatte, wurde zum Teil seiner bereits erwachten Reue zugeschrieben, zum Teil der nicht ganz nor-malen Geistesverfassung zum Zeitpunkt der Tat. Daß diese letzte Annahme zutraf, wurde auch durch den völlig unbe-absichtigten Mord an Lisaweta erhärtet und durch verschie-dene Begleitumstände dieser Tat. Jemand begeht zwei Morde und vergißt dabei, daß die Tür offensteht! Schließlich fiel auch ins Gewicht, daß er sich zu einem Zeitpunkt gestellt hatte, als der Fall infolge des falschen Geständnisses eines verzagten Fanatikers – Nikolajs – bereits außerordentlich verworren geworden war und als außerdem fast nichts auf den wirk-lichen Täter hindeutete, ja, nicht einmal irgendwelche Ver-dachtsmomente gegen ihn bestanden – Porfirij Petrowitsch hatte also voll und ganz sein Wort gehalten. All das trug schließlich dazu bei, das Schicksal des Angeklagten zu mildern.

Außerdem wurden völlig unerwartet auch noch einige weitere Dinge bekannt, die ein recht günstiges Licht auf den

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Angeklagten warfen. Der ehemalige Student Rasumichin hatte irgendwo die Tatsache ausgegraben und mit Beweisen belegt, daß Raskolnikow, als er noch an der Universität war, mit seinen letzten Mitteln einem armen, schwindsüchtigen Kom-militonen geholfen und ihn durch ein halbes Jahr fast ganz erhalten hatte. Als der junge Mann gestorben war, kümmerte sich Raskolnikow um dessen gelähmten Vater – sein Kamerad hatte fast von seinem dreizehnten Jahr an durch seine Arbeit für den Unterhalt des alten Mannes gesorgt –, brachte den Greis schließlich in einem Krankenhaus unter und ließ ihn, nachdem der Alte ebenfalls tot war, anständig be-graben. Alle diese Mitteilungen wirkten sich natürlich auf die Entscheidung über Raskolnikows Schicksal einigermaßen vorteilhaft aus. Seine ehemalige Hauswirtin, die Mutter seiner verstorbenen Braut, die Witwe Sarnizyna, bezeugte unter anderem, daß Raskolnikow, als sie noch in ihrem alten Haus an den Pjat Uglow wohnten, nachts bei einer Feuersbrunst aus einer bereits brennenden Wohnung zwei kleine Kinder herausgeholt und dabei Brandwunden erlitten hatte. Diese Angabe wurde sorgfältig überprüft und von vielen Zeugen genügend glaubwürdig bestätigt. Kurz, der Prozeß endete damit, daß der Angeklagte in Anbetracht dessen, daß er sich selbst gestellt hatte, und einiger mildernder Umstände nur zu Zwangsarbeit zweiter Klasse für die Dauer von acht Jahren verurteilt wurde.

Gleich zu Beginn des Prozesses wurde Raskolnikows Mutter krank. Dunja und Rasumichin hatten eine Möglichkeit ge-funden, sie für die ganze Zeit des Gerichtsverfahrens aus Petersburg wegzubringen. Rasumichin suchte eine Stadt aus, die in der Nähe Petersburgs und an der Eisenbahn lag, um den Prozeß in allen Einzelheiten regelmäßig verfolgen und doch möglichst oft mit Awdotja Romanowna zusammenkommen zu können. Pulcheria Alexandrownas Krankheit war ein selt-sames Nervenleiden und ging Hand in Hand mit einer Art Geistesschwäche, indem sie, wenigstens zeitweise, an Bewußt-seinsstörungen litt. Als Dunja von ihrem letzten Zusammen-treffen mit dem Bruder heimkam, fand sie die Mutter schon krank; sie hatte Fieber und phantasierte. Am selben Abend

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noch besprach sie sich mit Rasumichin, was sie eigentlich der Mutter antworten wollten, falls sie nach Raskolnikow fragte. Sie erfanden gemeinsam für Pulcheria Alexandrowna eine ganze Geschichte, daß Raskolnikow irgendwohin, weit weg, an die Grenze Rußlands, gereist sei, in einem privaten Auf-trag, der ihm endlich Geld und Ruhm eintragen werde. Aber es verblüffte sie beide, daß Pulcheria Alexandrowna weder damals noch später irgendwelche Fragen stellte. Im Gegen-teil, sie kam selbst mit einer ganzen Geschichte über die plötz-liche Abreise ihres Sohnes; unter Tränen erzählte sie, wie er sie aufgesucht habe, um sich von ihr zu verabschieden; da-bei gab sie andeutungsweise zu verstehen, daß ihr allein viele überaus wichtige, geheimnisvolle Umstände bekannt seien und daß Rodja viele höchst einflußreiche Feinde habe, so daß er sich sogar verbergen müsse. Was jedoch seine künftige Kar-riere betraf, so war auch Pulcheria Alexandrowna der Mei-nung, daß er unbezweifelbar einen glänzenden Aufstieg neh-men müsse, sobald gewisse widrige Umstände aus dem Wege geräumt wären; sie versicherte Rasumichin, ihr Sohn werde später noch ein berühmter Staatsmann werden, was sein Artikel und seine blendende literarische Begabung bewiesen. Diesen Artikel las sie immer wieder; sie las ihn manchmal sogar vor; fast nahm sie die Zeitschrift mit ins Bett; aber trotzdem stellte sie nie eine Frage, wo sich Rodja jetzt eigentlich aufhalte, sogar ungeachtet der Tatsache, daß man sichtlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen – was allein schon ihren Argwohn hätte erwecken können. Schließlich be-gannen Dunja und Rasumichin dieses hartnäckige Schweigen Pulcheria Alexandrownas über gewisse Punkte zu fürchten. Sie beklagte sich zum Beispiel nicht einmal darüber, daß sie keine Briefe von ihm erhielt, obwohl sie doch früher, solange sie noch in ihrer kleinen Stadt gewohnt hatte, einzig in der Hoffnung und in der Erwartung gelebt hatte, möglichst bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu bekommen. Diese letzte Tatsache war kaum zu begreifen und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter wohl etwas Furchtbares für das Schicksal ihres Sohnes ahnte und Angst hatte, Fragen zu stellen, um nicht etwas noch Schlimmeres zu

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erfahren. Jedenfalls erkannte Dunja, daß Pulcheria Alexan-drownas Verstand gelitten haben mußte.

Zweimal geschah es übrigens, daß Pulcheria Alexandrowna selbst dem Gespräch eine Wendung gab, die es eigentlich un-möglich machte zu antworten, ohne zu erwähnen, wo Rodja sich aufhalte; als daraufhin die Antworten notgedrungen unbefriedigend und verdächtig ausfielen, wurde sie ganz traurig, düster und schweigsam, was sehr lange Zeit anhielt. Dunja sah schließlich ein, daß es schwer war, ständig zu lügen und zu erfinden, und so entschied sie, daß es besser sei, über gewisse Punkte völlig zu schweigen; indessen wurde es im-mer klarer und offenkundiger, daß die arme Mutter etwas Entsetzliches argwöhnte. Dunja entsann sich unter anderem der Worte ihres Bruders, daß die Mutter sie in der Nacht vor jenem letzten schicksalsschweren Tag, also nach der Szene mit Swidrigailow, im Schlaf hatte sprechen hören – hatte sie da-mals vielleicht irgend etwas verstehen können? Oft, manchmal nach Tagen und sogar Wochen finsteren, mürrischen Schwei-gens und wortloser Tränen, wurde die Kranke in fast hysterischer Weise lebhaft und begann plötzlich laut und fast ohne Unterbrechung von ihrem Sohn zu sprechen, von ihren Hoffnungen, von der Zukunft ... Diese Phantasien waren bisweilen sehr merkwürdig. Man lenkte sie ab, man stimmte ihr bei – und sie selbst erkannte vielleicht am deutlichsten, daß man ihr nur beipflichtete, um sie abzulenken, aber sie redete dennoch ...