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Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher gestellt hatte, wurde das Urteil über ihn gefällt. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, sobald das nur möglich war, ebenfalls Sonja. Schließlich kam die Trennung. Dunja versicherte ihrem Bru-der, daß sie sich nicht für immer trennten; Rasumichin tat desgleichen. In Rasumichins jungem, hitzigem Kopf hatte sich der Plan festgesetzt, womöglich in den nächsten drei, vier Jahren wenigstens den Grundstock eines künftigen Ver-mögens zu schaffen, wenigstens einiges Geld zu sparen und dann nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Hinsicht reich war und wo es nur wenig Arbeiter, wenig Menschen und wenig Kapital gab; dort wollte er sich in jener

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Stadt niederlassen, in der Rodja lebte, und dann ... konn-ten sie alle gemeinsam ein neues Leben beginnen. Beim Ab-schied weinten alle. Raskolnikow war in den letzten Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und machte sich unablässig Sorgen um sie. Er quälte sich ihretwegen so sehr, daß es Dunja beunruhigte. Als er in allen Einzelheiten von der krankhaften Gemütsveränderung seiner Mutter er-fuhr, wurde er sehr düster. Zu Sonja war er aus irgendwel-chen Gründen die ganze Zeit über besonders wortkarg. Sonja hatte sich mit Hilfe des Geldes, das Swidrigailow ihr hinter-lassen hatte, schon längst reisefertig gemacht und war bereit, der Sträflingsabteilung zu folgen, mit der Raskolnikow ver-schickt werden sollte. Darüber war zwischen ihr und ihm kein einziges Wort gewechselt worden; aber beide wußten, daß es so sein würde. Beim letzten Abschied lächelte er merkwürdig über die feurigen Versicherungen seiner Schwester und Rasu-michins, die von einer glücklichen gemeinsamen Zukunft sprachen, wenn er einmal die Zwangsarbeit abgebüßt hätte, und er sagte voraus, daß die Krankheit ihrer Mutter bald mit einem Unglück enden werde. Er und auch Sonja traten schließlich die Reise an.

Zwei Monate später heirateten Dunjetschka und Rasu-michin. Die Hochzeit war still und traurig. Zu den Gästen zählten übrigens Porfirij Petrowitsch und Sosimow. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines Mannes ge-wonnen, der einen festen Entschluß gefaßt hat. Dunja glaubte blindlings, daß er alle seine Absichten durchführen werde, und sie hatte auch keinen Grund, daran zu zweifeln: dieser Mensch legte einen eisernen Willen an den Tag. Unter anderem besuchte er auch wieder seine Vorlesungen, um sein Studium zu beendigen. Beide entwarfen sie jeden Augenblick Zukunftspläne; sie rechneten fest damit, in fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Einstweilen jedoch setzten sie alle ihre Hoffnung auf Sonja.

Pulcheria Alexandrowna gab ihrer Tochter freudig den Segen zu der Ehe mit Rasumichin; doch nach der Hochzeit schien sie noch trauriger und sorgenvoller zu werden. Um ihr eine Freude zu machen, hatte ihr Rasumichin unter anderem

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die Geschichte von dem Studenten und seinem gebrechlichen Vater erzählt, ferner, daß Rodja Brandwunden erlitten hatte und sogar krank geworden war, als er im vergangenen Jahr zwei kleine Kinder vor dem Feuertode gerettet hatte. Beide Geschichten versetzten die ohnedies schon wirre Pulcheria Alexandrowna fast in Verzückung. Unablässig redete sie da-von; ja, sie erzählte sogar wildfremden Leuten auf der Straße davon, obgleich Dunja sie ständig begleitete. Wenn sie in öffent-lichen Verkehrsmitteln oder in Kaufläden nur irgendeinen Zu-hörer fand, brachte sie die Rede sofort auf ihren Sohn, auf dessen Artikel, darauf, wie er einem Studenten geholfen und bei einer Feuersbrunst Brandwunden erlitten hatte, und der-gleichen mehr. Dunjetschka wußte nicht mehr, wie sie sie zu-rückhalten sollte. Abgesehen davon, daß diese verzückte krankhafte Stimmung ihr gefährlich werden konnte, war stets auch die Möglichkeit gegeben, daß sich jemand an den Prozeß und an den Namen Raskolnikow erinnerte und die Sprache darauf brachte. Pulcheria Alexandrowna fand sogar heraus, wo die Mutter der beiden aus den Flammen geretteten Kinder wohnte, und wollte sie unbedingt aufsuchen. Schließlich überstieg ihre Unruhe jedes Maß. Manchmal begann sie plötz-lich zu weinen, und sie war oft krank und sprach im Fieber. Eines Morgens erklärte sie mit Bestimmtheit, nach ihrer Be-rechnung müsse Rodja bald zurückkommen; denn sie erinnere sich, daß er ihr beim Abschied selbst gesagt habe, sie solle ihn nach neun Monaten erwarten. Sie fing an, in der Wohnung alles aufzuräumen und für das Wiedersehen vorzubereiten; sie richtete das für ihn bestimmte Zimmer her – ihr eigenes –, sie reinigte die Möbel, wusch alles, hängte neue Gardinen auf und so weiter. Dunja war sehr besorgt, schwieg jedoch und half ihr, das Zimmer für den Empfang des Bru-ders herzurichten. Nach einem unruhigen Tag, den Pulcheria Alexandrowna unter endlosen wirren Reden in freudigen Träumen und unter Tränen verbracht hatte, erkrankte sie in der Nacht; am Morgen hatte sie schon hohes Fieber und phantasierte. Ein Nervenfieber war ausgebrochen. Zwei Wochen darauf starb sie. In ihren Fieberphantasien ent-schlüpften ihr Worte, denen man entnehmen konnte, daß sie

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weit mehr von dem furchtbaren Schicksal ihres Sohnes ge-ahnt hatte, als man vermutete.

Raskolnikow erfuhr lange nichts von dem Tod seiner Mutter, obwohl der Briefwechsel mit Petersburg gleich zu Beginn seines Aufenthaltes in Sibirien in Gang gekommen war. Er wurde von Sonja geführt, die pünktlich jeden Monat an Rasu-michin schrieb und pünktlich jeden Monat Antwort von ihm erhielt. Die Briefe Sonjas kamen Dunja und Rasumichin an-fangs irgendwie trocken und unbefriedigend vor; doch zu-letzt fanden beide, daß sie unmöglich besser schreiben konnte, denn ihre Briefe vermittelten trotz allem die vollständigste und genaueste Vorstellung von dem Los ihres unglücklichen Bruders. Sonjas Briefe waren voll der alltäglichsten Wirk-lichkeit; sie veranschaulichte auf die schlichteste und klarste Weise das ganze Milieu, in dem Raskolnikow als Zwangs-arbeiter lebte. Sie sprach nicht von ihren eigenen Hoffnungen, richtete keine Fragen an die Zukunft und schilderte auch nicht ihre eigenen Gefühle. Statt ihre Gemütsverfassung und überhaupt ihr ganzes inneres Leben zu beschreiben, teilte sie nur Tatsachen mit, das heißt, sie gab Raskolnikows eigene Worte wieder, berichtete ausführlich über seinen Gesundheits-zustand, schrieb, was er an diesem oder jenem Tage bei einer Zusammenkunft gewünscht, worum er gebeten, was er ihr aufgetragen hatte, und so weiter. All das wurde mit unge-wöhnlicher Genauigkeit erzählt. Und schließlich ergab sich daraus ganz von selbst das Bild des unglücklichen Bruders, genau und klar gezeichnet; nichts konnte falsch daran sein, denn es gründete sich allein auf Tatsachen.

Dunja und ihr Mann konnten diesen Mitteilungen, be-sonders anfangs, nur wenig Erfreuliches entnehmen. Sonja berichtete immer wieder, daß er ständig mürrisch und ver-schlossen sei und sich fast nicht für die Nachrichten interes-siere, die sie ihm jedesmal aus den an sie gerichteten Briefen übermittle; immer wieder habe er nach der Mutter gefragt, und als sie gemerkt habe, daß er die Wahrheit ahnte, habe sie ihm schließlich von ihrem Tod Mitteilung gemacht; aber zu ihrem Erstaunen habe sogar die Nachricht vom Tod seiner Mutter keinen sehr tiefen Eindruck auf ihn gemacht; wenigstens