Выбрать главу

- 691 -

sei ihr das dem äußeren Anschein nach so vorgekommen. Sie schrieb unter anderem, daß er sich, obgleich er offen-bar so sehr in sich selbst versponnen sei und sich gegen alle gleichsam abschließe, zu seinem neuen Leben sehr natürlich und einfach einstelle; daß er seine Lage richtig einschätze, für die nächste Zeit nichts Besseres erwarte, keine leichtsinnigen Hoffnungen hege – was doch bei Menschen in seiner Situation so oft vorkomme – und sich in seiner neuen Umgebung, die so ganz anders sei als alles, was er von früher her gewohnt sei, fast über nichts wundere. Sie berichtete, daß sein Ge-sundheitszustand befriedigend sei. Er gehe zur Arbeit, vor der er sich nicht drücke und zu der er sich nicht dränge. Was es zu essen gebe, sei ihm völlig gleich, doch sei die Verpflegung außer an Sonn- und Feiertagen derartig schlecht, daß er end-lich von ihr, Sonja, gern einiges Geld angenommen habe, um sich täglich Tee leisten zu können; was alles andere betreffe, so habe er sie gebeten, sich keine Mühe zu geben, und ihr versichert, all diese Fürsorge ärgere ihn nur. Weiter teilte Sonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raum zusammen mit den anderen Gefangenen untergebracht sei; sie habe das Zucht-haus nicht von innen gesehen, meine aber, daß es dort eng, abscheulich und unhygienisch sein müsse. Er schlafe auf einer Pritsche und lege sich eine Filzmatte unter, sonst wolle er nichts für sich tun. Er lebe aber keineswegs nach irgendeinem vorgefaßten Plan oder aus Absicht so hart und armselig, son-dern einfach aus Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit dem eigenen Schicksal gegenüber. Sonja schrieb unumwunden, daß er sich, zumal in der ersten Zeit, kaum für ihre Besuche in-teressiert habe, sondern im Gegenteil über ihr Kommen bei-nahe ärgerlich gewesen sei; daß er anfangs schweigsam und grob zu ihr gewesen sei, daß ihm aber am Ende diese Besuche zu einer Gewohnheit und geradezu zu einer Art Bedürfnis geworden seien, so daß er sich sogar sehr kränkte, als sie einige Tage krank gewesen sei und nicht habe kommen kön-nen. Sie sehe ihn an Feiertagen beim Gefängnistor oder in der Wachstube, wohin man ihn für einige Minuten rufe; an Werktagen jedoch treffe sie ihn an seinem Arbeitsplatz – ent-weder in den Werkstätten oder in den Ziegeleien oder in den

- 692 -

Lagerhäusern am Ufer des Irtysch. Über sich selbst schrieb Sonja, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt bereits einige Bekannte und Gönner zu finden; sie beschäftige sich mit Näh-arbeiten, und da es in der Stadt fast keine Modistinnen gebe, sei sie in vielen Häusern schon geradezu unentbehrlich ge-worden; allerdings erwähnte sie nicht, daß durch ihre Ver-mittlung auch Raskolnikow die Protektion seiner Vorgesetzten genoß, so daß ihm zum Beispiel leichtere Arbeiten zuge-wiesen worden waren und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht – Dunja hatte schon Sonjas letzten Briefen eine gewisse Unruhe und Sorge angemerkt –, daß er allen Menschen aus dem Wege gehe, daß die Zwangsarbeiter im Gefängnis ihn nicht leiden könnten und daß er ganze Tage schweige und sehr bleich geworden sei. Endlich, in ihrem letz-ten Brief, schrieb Sonja, er sei ernstlich erkrankt und liege im Gefangenenhospital ...

2

Er war schon lange krank gewesen; aber nicht die Schrek-ken seines Daseins als Sträfling, nicht die Strapazen der Arbeit, nicht die schlechte Ernährung, nicht der kahlrasierte Kopf, nicht die zerfetzte Kleidung hatten ihn gebrochen. Oh! was kümmerte er sich um all diese Qualen und Martern! Im Gegenteil, er freute sich über die Arbeit: wenn er sich bis zur Erschöpfung müde gearbeitet hatte, konnte er wenigstens einige Stunden ruhig schlafen. Und was bedeutete ihm das Essen – diese dünne Kohlsuppe mit den Küchenschaben darin? Früher, als Student, hatte er oft nicht einmal das gehabt. Seine Kleidung war warm und paßte zu seinem jetzigen Leben. Die Ketten spürte er gar nicht. Und wie hätte er sich seines rasierten Kopfes und seiner zweifarbigen Jacke schä-men sollen? Vor wem denn? Vor Sonja? Sonja fürchtete ihn, und er sollte sich vor ihr schämen?

Aber wie kam das? Er schämte sich tatsächlich vor Sonja und quälte sie dafür mit seinem geringschätzigen, unfreund-lichen Verhalten. Doch er schämte sich nicht seines rasierten

- 693 -

Kopfes und der Ketten: sein Stolz war es, den man tief ver-letzt hatte; er erkrankte aus verwundetem Stolz. Oh, wie glücklich wäre er gewesen, hätte er sich selbst anklagen kön-nen! Dann hätte er alles ertragen, sogar Schande und Schmach. Aber er war streng mit sich ins Gericht gegangen, und sein verhärtetes Gewissen fand in seiner Vergangenheit keine be-sondere Schuld, es sei denn vielleicht einen einfachen Fehl-schlug, der jedem unterlaufen konnte. Er schämte sich einfach dessen, daß er, Raskolnikow, so blind, hoffnungslos, stumpf und dumm, dem Urteilsspruch eines willkürlichen Schicksals zufolge, untergegangen war; daß er sich mit diesem sinn-losen Urteil abfinden und sich ihm fügen mußte, wenn er auch nur ein kleines bißchen zur Ruhe kommen wollte.

Gegenstandslose, ziellose Unruhe in der Gegenwart und in der Zukunft ein einziges, ununterbrochenes Opfer, durch das nichts gewonnen wurde – das war es, was ihm auf Erden bevorstand. Und was bedeutete es, daß er in acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und das Leben von vorn an-fangen konnte? Wozu sollte er leben? Was sich vornehmen? Wonach streben? Sollte er leben, nur um zu existieren? Aber er war doch auch früher schon tausendfach bereit gewesen, sein Dasein für eine Idee hinzugeben, für eine Hoffnung, so-gar für ein Phantasiebild! Das bloße Dasein war ihm immer zuwenig gewesen; stets hatte er mehr gewollt. Vielleicht hatte er sich damals einzig um der Intensität seiner Wünsche willen für einen Menschen gehalten, dem mehr erlaubt ist als den anderen.

Wenn ihm das Schicksal wenigstens Reue geschenkt hätte - brennende Reue, die das Herz zerbricht und den Schlaf verscheucht, eine Reue, bei deren entsetzlichen Qualen man an Strick und Wasser denken muß! Oh, er hätte sich über diese Reue gefreut! Qualen und Tränen – auch das ist ja Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht. Hätte er sich wenigstens über seine eigene Dummheit erbosen können, wie er früher seiner häßlichen, höchst albernen Handlungsweise wegen, die ihn in den Kerker gebracht hatte, über sich zornig gewesen war! Doch jetzt, im Gefängnis, also in Freiheit, er-wog und bedachte er aufs neue all sein Tun und fand es keines-

- 694 -

wegs so dumm und abscheulich, wie es ihm vorher, in jener schicksalsschweren Zeit, erschienen war.

Worin, worin nur, dachte er, war mein Gedanke dümmer als andere Gedanken und Theorien, die in der Welt umher-schwirren und sich gegenseitig stoßen, seit diese Welt besteht? Man braucht die Sache nur einmal mit völlig vorurteilslosem, offenem und von den Einflüssen des Alltags unabhängigem Blick zu betrachten, und dann sieht mein Gedanke keines-wegs so ... seltsam aus. Oh, ihr Verneiner und ihr Neunmal-klugen, deren Weisheit keine fünf Kopeken wert ist, warum bliebt ihr auf halbem Wege stehen?!

Weshalb bloß kommt ihnen meine Handlungsweise so ab-stoßend vor? fragte er sich. Weil ich ein Verbrechen begangen habe? Was heißt da Verbrechen? Mein Gewissen ist ruhig. Natürlich habe ich ein kriminelles Delikt begangen; natürlich wurde der Buchstabe des Gesetzes verletzt und Blut vergos-sen; aber so nehmt doch für den Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf ... und fertig! Freilich hätten in diesem Fall viele Wohltäter der Menschheit, die die Macht nicht geerbt, sondern aus eigener Kraft an sich gerissen hatten, schon bei ihren ersten Schritten hingerichtet werden müssen. Aber diese Menschen brachen nicht zusammen unter der Last ihrer Ta-ten, und darum hatten sie recht; ich dagegen ertrug meine Tat nicht und hatte daher auch nicht das Recht, mir diesen Schritt zu erlauben.

Nur in diesem Punkt fühlte er sich schuldig: daß er nicht durchgehalten und sich selbst gestellt hatte.