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Aber wohin gehe ich denn? dachte er plötzlich. Sonderbar. Ich bin doch aus irgendeinem Grund hier hergegangen. Sobald ich den Brief gelesen hatte, machte ich mich auf den Weg ... Zur Wasilij-Insel, zu Rasumichin wollte ich gehen ... das war es, jetzt erinnere ich mich! Aber wozu eigentlich? Und wieso ist mir der Gedanke, zu Rasumichin zu gehen, gerade jetzt in den Sinn gekommen? Das ist merkwürdig.

Er staunte über sich selbst. Rasumichin war einer seiner früheren Universitätskollegen. Bemerkenswerterweise hatte Raskolnikow an der Universität fast keine Bekannten gehabt, mit denen er näheren Umgang gepflogen hätte; er hatte sich von allen ferngehalten, war zu niemandem gegangen und hatte auch sehr ungern Besuch empfangen. Übrigens hatten sich bald alle von ihm abgewandt. Weder an Zusammenkünf-ten noch an Gesprächen noch an Unterhaltungen noch an sonst etwas hatte er teilgenommen. Eifrig hatte er gearbeitet,

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ohne sich zu schonen, und dafür hatte man ihn geachtet, aber geliebt hatte ihn keiner. Er war sehr arm und von einem seltsamen, anmaßenden Stolz und ungesellig; es schien, als hätte er irgendein Geheimnis zu bewahren. Manche seiner Kameraden hatten den Eindruck, als blickte er auf die an-deren herab wie auf Kinder, als wäre er ihnen allen an Ent-wicklung, an Kenntnissen und Überzeugungen voraus und als hielte er ihre Oberzeugungen und Interessen für kindisch. Rasumichin war er etwas nähergekommen, das heißt, er hatte sich nicht geradezu mit ihm angefreundet, aber er hatte sich ihm gegenüber gesprächiger und offener gegeben. Übrigens wäre es unmöglich gewesen, zu Rasumichin ein anderes Verhältnis zu haben. Er war ein ungemein freund-licher, geselliger Bursche, gut bis zur Einfalt. Doch verbargen sich hinter seiner Schlichtheit Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden erkannten das; alle liebten ihn. Er war sehr klug, obgleich er manchmal wirklich ein wenig simpel sein konnte. Er hatte ein eindrucksvolles Äußeres – er war groß, mager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Manchmal brach er Streit vom Zaun, und er stand in dem Ruf, bären-stark zu sein. Einmal streckte er nachts, in fröhlicher Kum-panei, mit einem einzigen Schlag einen Aufseher nieder, der zwölf Werschok groß war. Trinken konnte er ohne Aufhören, doch konnte er auch völlig aufs Trinken verzichten; manch-mal trieb er Unfug, der geradezu ans Unerlaubte grenzte, doch konnte er auch ganz ohne Unfug leben. Rasumichin war noch dadurch bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg je in Verwirrung brachte und daß ihn auch die schlimmsten Ver-hältnisse, wie es schien, nicht niederzubeugen vermochten. Er wäre imstande gewesen, auch auf einem Dachboden zu hausen und höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu ertra-gen. Er war sehr arm und ganz auf sich gestellt; seinen Un-terhalt verdiente er sich mit den verschiedensten Arbeiten. Er kannte eine Unzahl von Erwerbsquellen, aus denen er schöpfen konnte, natürlich nur durch Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter lang sein Zimmer überhaupt nicht und erklärte, das sei sogar angenehmer, weil man bei Kälte besser schlafe. Jetzt war er gezwungen gewesen, sein Studium

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zu unterbrechen, aber nicht für lange Zeit, und er bemühte sich mit allen Kräften, seine Verhältnisse zu verbessern, damit er sein Studium fortsetzen könne. Raskolnikow war schon etwa vier Monate nicht bei ihm gewesen, und Rasu-michin wußte nicht einmal, wo er wohnte. Einmal, vor unge-fähr zwei Monaten, waren sie auf der Straße einander begeg-net, doch Raskolnikow hatte sich abgewandt und war sogar auf die andere Straßenseite gegangen, damit jener ihn nicht bemerkte. Und Rasumichin hatte ihn zwar bemerkt, war aber vorübergegangen, da er den Freund nicht beunruhigen wollte.

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Wirklich, ich wollte erst vor kurzem noch Rasumichin um Arbeit bitten, daß er mir entweder Privatstunden oder sonst etwas verschaffe, spann Raskolnikow seine Gedanken weiter; aber womit kann er mir denn jetzt helfen? Angenommen, er verschafft mir Stunden, angenommen sogar, er teilt seine letzte Kopeke mit mir, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir Schuhe kaufen und meinen Anzug in Ordnung bringen und dann tatsächlich auch Stunden geben kann ... hm ... und was weiter? Was fange ich mit Fünfkopeken-stücken an? Brauche ich das denn jetzt? Es ist wahrhaftig lächerlich, daß ich zu Rasumichin gehe ...

Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin ging, machte ihm mehr zu schaffen, als er sich selber eingestand; voll Be-sorgnis suchte er in diesem doch ganz gewöhnlichen Vorhaben irgendeine schlimme Vorbedeutung.

Wie? Will ich denn wirklich alles nur durch Rasumichin in Ordnung bringen, habe ich in Rasumichin den Ausweg aus allen Schwierigkeiten gefunden? fragte er sich betroffen.

Nachdenklich rieb er sich die Stirn, und sonderbar: ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst, kam ihm nach sehr langem Grübeln ein erstaunlicher Gedanke.

Hm ... zu Rasumichin, sprach er plötzlich völlig ruhig, als handelte es sich um einen endgültigen Entschluß, ich werde zu Rasumichin gehen, natürlich ... aber ... nicht

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jetzt. Zu ihm gehe ich am Tage danach, wenn das schon voll-bracht ist und alles neu beginnt.

Und mit einemmal kam er zur Besinnung.

Danach? rief er und sprang von der Bank. Ja, wird denn das geschehen? Wird es wirklich und wahrhaftig geschehen?

Er ging von der Bank fort, stürzte geradezu im Laufschritt davon; er wollte zurück, in sein Zimmer, aber nach Hause zu gehen erregte ihm plötzlich Ekel – ebendort, in diesem entsetzlichen Schrank, war ja schon vor mehr als einem Monat all das herangereift; und so ging er, wohin ihn die Beine trugen.

Sein nervöses Zittern wurde seltsam fiebrig; er schauerte zusammen, trotz der Hitze fror er. Mit großer Überwindung begann er, beinahe unbewußt, als triebe ihn eine innere Not-wendigkeit dazu, alle Gegenstände, die ihm unterkamen, genau zu betrachten; er suchte gewaltsam nach Ablenkung, doch das gelang ihm schlecht, und er versank jeden Augen-blick wieder in Grübeln. Wenn er, abermals aufschreckend, den Kopf hob und um sich blickte, vergaß er sogleich, woran er eben gedacht hatte, vergaß sogar, wo er ging. So überquerte er die ganze Wasilij-Insel, kam zur Kleinen Newa, ging über die Brücke und wandte sich den Inseln in der Newamündung zu. Das Grün und die frische Luft taten anfangs seinen müden Augen wohl, die an den Staub der Stadt, an Kalk und an die riesengroßen, beengenden, bedrückenden Häuser gewöhnt waren. Hier gab es keine Schwüle, keinen Gestank, keine Kneipen. Doch bald nahmen auch diese neuen, zunächst angenehmen Empfindungen einen krankhaften und aufrei-zenden Charakter an. Manchmal machte er vor einem schmuk-ken Sommerhäuschen halt, das im Grünen fast versteckt da-lag, schaute durch den Zaun und sah dahinter geputzte Frauen, die sich auf Balkons und Terrassen aufhielten, während im Garten Kinder spielten. Besonders fesselten ihn die Blu-men; sie betrachtete er am längsten. Es kamen ihm auch luxuriöse Wagen entgegen, Reiter und Reiterinnen; er sah ihnen neugierig nach und vergaß sie, noch ehe sie seinem Blick entschwunden waren. Einmal blieb er stehen und zählte sein Geld nach; es waren ungefähr dreißig Kopeken.