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Er litt auch unter dem Gedanken, warum er damals nicht Selbstmord begangen hatte. Weshalb hatte er damals am Wasser gestanden und es dann doch vorgezogen, sich anzu-zeigen? Lag denn wirklich eine solche Kraft in diesem Wunsch, nur zu leben, und war es so schwer, mit diesem Wunsch fertig-zuwerden? Swidrigailow hatte doch seinen Lebenswillen über-wunden, obgleich er den Tod so gefürchtet hatte?

Voll Qual fragte er sich das und vermochte nicht zu er-kennen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser ge-standen hatte, die tiefe Lüge in sich selbst und in seinen Überzeugungen geahnt hatte. Er erkannte nicht, daß diese

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Ahnung ein Vorbote der nahenden Umwälzung in seinem Leben sein könnte, ein Vorbote seiner künftigen Auferste-hung, seiner künftigen neuen Anschauungen.

Eher gestand er sich hier eine stumpfe Schwerfälligkeit des Instinktes zu, den er nicht brechen konnte und über den hinwegzuschreiten er – aus Schwäche und aus Bedeutungs-losigkeit – wiederum nicht die Kraft hatte. Er sah seine Ge-fährten, die andern Zwangsarbeiter, an und wunderte sich darüber, wie auch sie das Leben alle liebten, wie sie es hoch-schätzten. Es schien ihm geradezu, als ob die Menschen, so-bald sie im Kerker waren, das Leben mehr liebten und schätz-ten und größeren Wert darauf legten als in der Freiheit. Was für furchtbare Qualen und Martern hatten nicht manche von ihnen ertragen, zum Beispiel die Landstreicher! War es denn wirklich möglich, daß ein einziger Sonnenstrahl so viel für sie bedeutete, ein dämmriger Wald, irgendwo in einer unbe-kannten Einöde eine kalte Quelle, die einer von ihnen vor drei Jahren entdeckt hatte ... konnte das so viel bedeuten, daß er von dem Wiedersehen mit dieser Quelle träumte wie von einem Stelldichein mit seiner Geliebten? Daß er sie im Traume sah und das grüne Gras ringsum und die zwitschern-den Vögel im Gebüsch? Je genauer Raskolnikow zusah, um so mehr Beispiele fand er, die noch rätselhafter waren.

Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung blieb ihm na-türlich vieles verborgen, und er wollte auch gar nichts sehen. Er lebte gewissermaßen mit gesenktem Blick; das Schauen ekelte ihn an und war ihm unerträglich. Aber allmählich setzte ihn doch manches in Staunen, und er bemerkte, gleich-sam unwillkürlich, Dinge, die er früher nicht einmal geahnt hatte. Am meisten staunte er über jenen furchtbaren, unüber-brückbaren Abgrund, der zwischen ihm und all diesem Volk lag. Es schien, als gehörten er und sie verschiedenen Welten an. Sie betrachteten einander voller Mißtrauen und Feind-seligkeit. Er kannte und verstand natürlich die allgemeinen Ursachen einer solchen Trennung; aber niemals hätte er früher geglaubt, daß diese Ursachen wirklich so tief reichen und so mächtig sind. In ihrem Gefängnis gab es unter anderem de-portierte Polen, politische Verbrecher. Diese hielten alle

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anderen für ungebildete Kerle und Lümmel und verachte-ten sie voll Hochmut; doch Raskolnikow vermochte seine Gefährten nicht so anzusehen; er erkannte deutlich, daß diese ungebildeten Kerle in vielem weit klüger waren als die Polen. Es gab auch einige Russen, die das einfache Volk zu-tiefst verachteten – einen ehemaligen Offizier und zwei Se-minaristen; Raskolnikow sah auch ihren Irrtum.

Man liebte ihn nicht, und alle wichen ihm aus. Am Ende fingen sie sogar an, ihn zu hassen. Warum? Er wußte es nicht. Leute, die weit größere Verbrecher waren als er, verachteten ihn, lachten ihn aus und spotteten über seine Tat.

»Du bist ein gnädiger Herr!« sagten sie zu ihm. »Wozu hast du dir mit dem Beil zu schaffen gemacht? Das ist keine Herrensache!«

In der zweiten Woche der Großen Fasten kam an ihn die Reihe, sich gemeinsam mit den Insassen seiner Abteilung für die Beichte und Kommunion vorzubereiten. Er ging in die Kirche und betete mit den andern. Auf einmal kam es zu einem Streit – weshalb wußte er selbst nicht. Alle fielen plötz-lich wütend über ihn her.

»Du bist gottlos! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie ihm zu. »Dich sollte man erschlagen!«

Noch nie hatte er mit ihnen über Gott oder über den Glauben gesprochen, dennoch wollten sie ihn als einen Gott-losen umbringen; er schwieg und entgegnete nichts. Ein Zwangsarbeiter stürzte sich in völliger Raserei auf ihn; Ras-kolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend; er zuckte mit keiner Wimper und verzog keine Miene. Ein Wachsoldat konnte noch rechtzeitig zwischen sie treten – sonst wäre es zu einem Blutvergießen gekommen.

Unlösbar war für ihn noch eine weitere Frage: warum hat-ten alle Sonja so liebgewonnen? Sie buhlte doch nicht um ihre Gunst; die Leute begegneten ihr selten, meist nur an den Arbeitsplätzen, wenn sie für eine Minute kam, um Raskolni-kow zu sehen. Indes kannten sie schon alle; sie wußten auch, daß sie ihm nachgereist war, wußten, wie und wo sie lebte. Sie gab ihnen kein Geld, sie erwies ihnen keine besonderen Gefälligkeiten. Nur einmal, zu Weihnachten, hatte sie für

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alle Insassen des Zuchthauses Geschenke gebracht: Piroggen und Napfkuchen. Trotzdem hatten sich allmählich zwischen den Häftlingen und Sonja nähere Beziehungen angeknüpft: sie schrieb ihnen Briefe an ihre Angehörigen und brachte sie zur Post. Die Verwandten der Häftlinge, die zu Besuch in die Stadt gekommen waren, hinterlegten auf Wunsch der Ge-fangenen Sachen und sogar Geld bei Sonja. Die Frauen und Geliebten der Unglücklichen kannten und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikow ging und an seine Arbeitsstelle kam oder wenn sie unterwegs einer Häftlingsgruppe begegnete, nahmen alle die Mütze ab, und alle verneigten sich. »Liebste Sofja Semjonowna, du unsere Mutter, du Zarte, Barmherzige!« sagten diese ungeschlachten, gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu dem kleinen, mageren Geschöpf. Lächelnd erwiderte sie die Grüße, und alle liebten es, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten sogar Sonjas Gang und drehten sich um, um ihr nach-zublicken und um zu sehen, wie sie ging, und sie priesen sie; sie priesen sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, wofür sie sie noch preisen sollten. Und wenn jemand krank war, ging er zu ihr und ließ sich von ihr behandeln.

Raskolnikow lag die zweite Hälfte der Fastenzeit bis zum Ende der Karwoche im Lazarett. Als er schon auf dem Wege der Besserung war, entsann er sich der Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit hatte er geträumt, die ganze Welt sei verurteilt, einer furchtbaren, unbekannten pestartigen Seuche zum Opfer zu fallen, die sich aus den Tiefen Asiens nach Europa ausbreitete. Alle Menschen mußten zugrunde gehen außer einigen wenigen Auserwählten. Eine neue Art Trichinen waren aufgetaucht, mikroskopisch kleine Lebewesen, die sich im Körper der Men-schen festsetzten. Aber diese Lebewesen waren Geister, be-gabt mit Vernunft und Willen. Die Menschen, die von ihnen befallen waren, wurden sogleich besessen und verrückt. Noch nie, noch nie hatten sich die Leute für so klug und für so unerschütterlich im Besitz der Wahrheit gehalten, wie diese Angesteckten es taten. Noch nie hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlußfolgerungen, ihre moralischen Über-zeugungen und Bekenntnisse als eine so unumstößliche Ge-

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wißheit betrachtet. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völ-ker wurden von der Seuche ergriffen und verfielen dem Wahnsinn. Alle waren voll Unrast und verstanden einander nicht; jeder glaubte, in ihm allein sei die Wahrheit beschlos-sen, und quälte sich, wenn er die anderen ansah; er schlug sich gegen die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte nicht, wen man verurteilen und wen man freisprechen sollte; man konnte nicht übereinkommen, was man für schlecht und was man für gut zu halten habe. Man wußte nicht, wen es anzuklagen und wen es zu rechtfertigen galt. Die Menschen töteten in sinnloser Wut. Mit ganzen Armeen zogen sie gegeneinander, aber schon auf dem Marsch begannen diese Armeen sich plötzlich selbst zu zerfleischen; die Reihen ge-rieten in Unordnung; die Krieger stürzten aufeinander los, schlugen und stachen aufeinander ein und bissen und fraßen einander. In den Städten wurde den ganzen Tag Sturm geläutet: man rief alle Einwohner zusammen, aber wer sie rief und weshalb, das wußte niemand, und alle waren in schrecklicher Aufregung. Man gab selbst die gewöhnlichsten Beschäftigungen auf, weil jeder seine Gedanken, seine Ver-besserungsvorschläge vorbrachte, und doch konnte man sich über nichts einigen; die Bestellung der Felder ruhte. Irgendwo rotteten sich Leute zusammen, faßten gemeinsam einen Be-schluß, versprachen, sich nie zu trennen, aber gleich darauf taten sie etwas ganz anderes, als sie eben erst gelobt hatten: sie begannen sich gegenseitig zu beschuldigen, wurden mit-einander handgemein und stachen aufeinander los. Feuers-brünste brachen aus; eine Hungersnot kam. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche nahm zu und breitete sich immer weiter aus. Auf der ganzen Welt konnten sich nur einige we-nige Menschen retten; das waren die Reinen und Erwählten, dazu bestimmt, der Anfang eines neuen Menschengeschlech-tes und eines neuen Lebens zu sein, bestimmt, die Erde zu erneuern und zu säubern; doch hatte niemand je diese Men-schen gesehen, niemand je ihre Worte und Stimmen gehört. Es quälte Raskolnikow, daß diese sinnlosen Fieberphan-tasien in seinen Erinnerungen einen so traurigen, entsetzens-vollen Widerhall fanden und daß er den Eindruck dieser