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Träume so lange nicht vergessen konnte. Inzwischen war schon die zweite Woche nach Ostern angebrochen; die Tage waren warm, klar und frühlingshaft; in dem Gefangenenlazarett öffnete man die vergitterten Fenster, unter denen ein Wach-posten stand. Während der ganzen Zeit, die er hier lag, hatte ihn Sonja nur zweimal besuchen können; jedesmal mußte sie dazu eine besondere Erlaubnis einholen, und das war schwer. Aber sie kam oft in den Hof des Krankenhauses und stellte sich unter sein Fenster, meist gegen Abend; manchmal blieb sie auch nur eine Minute auf dem Hof stehen, um wenigstens aus der Ferne zu den Fenstern des Lazarettes hinaufzu-schauen. Einmal, gegen Abend, war Raskolnikow – er war fast schon völlig genesen – eingeschlafen; nachdem er wieder er-wacht war, trat er zufällig ans Fenster und erblickte plötzlich in der Ferne, beim Tor des Krankenhauses, Sonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. Im selben Augenblick spürte er einen Stich im Herzen; er erschauerte und trat rasch vom Fenster zurück. Am nächsten Tag kam Sonja nicht, auch nicht am übernächsten Tag; er merkte, wie er voll Un-ruhe auf sie wartete. Endlich wurde er aus dem Lazarett entlassen. Als er wieder im Gefängnis war, erfuhr er von seinen Kameraden, daß Sofja Semjonowna krank geworden war, zu Hause lag und nicht ausgehen konnte.

Er war in großer Unruhe und ließ sich nach ihr erkundigen. Bald erfuhr er, daß ihre Krankheit nicht gefährlich war. Als sie ihrerseits hörte, wie er sich um sie grämte und was für Sor-gen er sich machte, schickte sie ihm ein Briefchen, mit Blei-stift geschrieben, in dem sie ihm mitteilte, daß sie sich schon weit besser fühle, daß sie an einer unbedeutenden, leichten Erkältung leide und bald, sehr bald an seine Arbeitsstelle kommen werde, um mit ihm zu sprechen. Als er ihren Brief las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft.

Es war abermals ein klarer, warmer Tag. Am frühen Mor-gen, gegen sechs Uhr, marschierte er zur Arbeit, zum Fluß-ufer hinunter, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Gips-brennen eingerichtet war und wo der Gips auch kleingestoßen wurde. Zu dieser Arbeit wurden immer nur drei Mann einge-teilt. Einer der Häftlinge war unter Begleitung eines Wach-

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Soldaten in die Festung zurückgegangen, um noch irgend-welche Werkzeuge zu holen; der zweite spaltete Holz und heizte den Ofen an. Raskolnikow trat aus dem Schuppen ans Ufer hinaus, setzte sich auf die hier aufgeschlichteten Balken und schaute auf den breiten, einsamen Strom hinab. Das Ufer war steil, und man hatte einen weiten Blick rings ins Land. Von dem fernen gegenüberliegenden Ufer klang leiser Gesang herüber. Dort waren in der vom Sonnenschein übergossenen, unermeßlichen Steppe als kaum wahrnehmbare schwarze Punkte einige Nomadenzelte zu sehen. Da war die Freiheit, und da lebten andere Menschen, die mit den Menschen hier nichts gemein hatten; dort schien sogar die Zeit stillzustehen, als wären die Tage Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und schaute unverwandt in die Weite; seine Gedanken verloren sich in Träume, in Visionen; er dachte an nichts, aber eine schwermütige Sehnsucht erregte und quälte ihn.

Plötzlich war Sonja neben ihm. Lautlos war sie zu ihm ge-treten und hatte sich neben ihn gesetzt. Es war noch sehr früh; die Morgenkühle war noch nicht vergangen. Sonja trug ihren armseligen alten Mantel und ihr grünes Tuch. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren ihrer Krankheit; es war magerer ge-worden, und sie sah schmal und blaß aus. Freundlich und freudig lächelte sie ihm zu, doch wie gewöhnlich gab sie ihm nur schüchtern die Hand.

Sie streckte ihm ihre Hand immer so zaghaft entgegen, und manchmal unterließ sie es auch ganz, als hätte sie Angst, er könnte diese Hand zurückstoßen. Stets hatte er ihre Hand gewissermaßen mit Abscheu genommen, stets begegnete er ihr mit einer Art Ärger, und manchmal schwieg er hartnäckig während ihres ganzen Besuches. Es kam vor, daß sie vor ihm zitterte und tief gekränkt wegging. Doch jetzt lösten sich ihre Hände nicht voneinander; flüchtig und rasch blickte er sie an, aber er sagte nichts und schlug die Augen nieder. Sie waren allein; niemand sah sie. Der Wachsoldat hatte sich ge-rade umgedreht.

Wie es geschah, wußte er selber nicht, aber plötzlich packte ihn gleichsam etwas und warf ihn ihr zu Füßen. Er weinte

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und umfing ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie furchtbar, und sie wurde totenblaß im Gesicht. Sie sprang auf und sah ihn zitternd an. Doch sofort, in derselben Sekunde noch, verstand sie alles. In ihren Augen leuchtete unend-liches Glück auf; sie hatte erkann: – und es gab für sie keinen Zweifel mehr –, daß er sie liebte, grenzenlos liebte und daß dieser Augenblick endlich gekommen war ...

Sie wollten sprechen, konnten es aber nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren sie blaß und mager; doch in ihren kranken, bleichen Gesichtern leuchtete schon das Morgenrot einer neuen Zukunft, der Auferstehung zu einem neuen Leben. Die Liebe hatte sie erweckt; in ihren Her-zen waren unversiegliche Lebensquellen füreinander aufge-gebrochen ...

Sie beschlossen, zu warten und auszuharren. Es blieben ih-nen noch sieben Jahre unerträglicher Qual, aber auch unnenn-baren Glücks. Er war auferstanden und wußte das, fühlte es mit seinem ganzen erneuerten Wesen, und sie – sie lebte ja nur in ihm!

Am Abend desselben Tages, als man das Zuchthaus schon abgeschlossen hatte, lag Raskolnikow auf seiner Pritsche und dachte an Sonja. An diesem Tage schien es ihm geradezu, als ob alle die Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn schon ganz anders betrachteten. Er hatte sogar selbst Gespräche mit ihnen angeknüpft und freundliche Antworten erhalten. Er dachte darüber nach, doch das mußte jetzt wohl so sein – mußte sich denn jetzt nicht alles ändern?

Er dachte an Sonja. Er entsann sich, wie er sie ständig ge-quält und ihr Herz gemartert hatte; er entsann sich ihres blas-sen, mageren Gesichtes; aber diese Erinnerungen bedrückten ihn kaum mehr, denn er wußte, mit welch unendlicher Liebe er von nun an all ihre Leiden vergelten wollte.

Und was lag denn an allen, allen Qualen der Vergangen-heit? Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung, erschien ihm jetzt, im ersten Aufschwung seines Gefühls, als ein äußerliches, seltsames Geschehnis, das gewis-sermaßen gar nicht ihm widerfahren war. Übrigens vermochte er an diesem Abend nicht lange an ein und dieselbe Sache zu