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Zwanzig dem Schutzmann, drei Nastasja für den Brief – folglich habe ich den Marmeladows gestern siebenundvierzig oder fünfzig gegeben, dachte er bei dieser sinnlosen Rechnung, doch gleich darauf hatte er vergessen, weshalb er das Geld aus der Tasche genommen hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er an einer Gaststätte, einer Art Garküche, vorbeikam und Hunger verspürte. Er trat ein, trank einen Schnaps und kaufte sich eine Pirogge mit irgendwelcher Füllung. Er aß sie erst auf der Straße auf. Er hatte sehr lange keinen Schnaps mehr getrunken, und so tat das eine Gläschen augenblicklich seine Wirkung. Seine Beine wurden schwer, und er wurde uner-träglich müde. Er schlug den Heimweg ein, doch schon auf der Peter-Insel blieb er völlig ermattet stehen, dann ging er seitwärts in ein Gebüsch, fiel ins Gras und schlief im selben Augenblick ein.

Ist ein Mensch krank, zeichnen sich seine Träume oft durch ungewöhnliche Plastik und Deutlichkeit und durch eine außer-ordentliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Bisweilen ist der Traum im ganzen ungeheuerlich und phantastisch, aber Milieu und Ablauf des Geschehens sind dabei in solchem Maße wahrscheinlich und zeigen so feine, unerwartete, aber künstlerisch der vollen Geschlossenheit des Bildes so sehr ent-sprechende Einzelheiten, daß im wachen Zustand der Träu-mende selber sie nicht ersinnen könnte, wäre er auch ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew. Solche Träume, krankhafte Träume, haften immer lange in der Erinnerung und machen auf den gestörten und erregten Organismus des Menschen tiefen Eindruck.

Raskolnikow hatte einen furchtbaren Traum. Er träumte, er sei wieder ein Kind und lebe noch in seiner Heimatstadt. Er war sieben Jahre alt und ging an einem Feiertag, gegen Abend, mit seinem Vater vor der Stadt spazieren. Das Wetter war trüb, der Tag drückend schwül, die Gegend haargenauso, wie sie in seinem Gedächtnis fortlebte; ja, in der Erinnerung hatte sich das Bild sogar weit mehr verwischt, als sich die Landschaft ihm jetzt im Traum darstellte. Das Städtchen lag offen da, wie auf der flachen Hand; ringsum war nicht einmal ein Weidenbaum zu sehen; irgendwo in sehr weiter Ferne

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erblickte man ganz am Horizont ein schwarzes Wäldchen. Einige Schritte hinter dem letzten Gemüsegarten der Stadt stand ein Wirtshaus, ein großes Wirtshaus, das auf ihn immer einen höchst unangenehmen Eindruck gemacht und ihm sogar Furcht eingejagt hatte, wenn er auf seinen Spaziergängen mit dem Vater daran vorbeigekommen war. Dort war stets alles voll von Menschen, dort wurde so gebrüllt, gelacht, geflucht; dort sang man so häßlich und heiser, und die Männer prügel-ten sich oft; in der Nähe der Schenke trieben sich immer so betrunkene, furchtbare Gestalten herum ... Wenn er ihnen begegnete, preßte er sich immer fest an den Vater und zitterte am ganzen Leib. – Die Straße führte an dem Gasthaus vorbei; es war mehr eine Art Feldweg, immer staubig, und der Staub war tiefschwarz. Dieser sich dahinschlängelnde Weg machte nach etwa dreihundert Schritt rechts einen Bogen um den städtischen Friedhof. Mitten auf dem Friedhof stand eine Kirche aus Stein mit einer grünen Kuppel, und zweimal im Jahr ging er mit Vater und Mutter in diese Kirche zum Gottesdienst, wenn die Seelenmesse für seine Großmutter ge-lesen wurde, die schon lange gestorben war und die er nie-mals gesehen hatte. Bei dieser Gelegenheit brachten sie immer die Kutja* auf einer weißen Schüssel in einer Serviette mit; es war eine süße Kutja aus Reis mit Rosinen, die in Kreuz-form in den Reis gedrückt waren. Er liebte diese Kirche mit ihren altertümlichen Heiligenbildern, die zum größten Teil keine Rahmen hatten, und den alten Priester mit seiner zitt-rigen Stimme. Neben dem Grab der Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines jüngeren Bruders, der mit sechs Monaten gestorben war und den er ebenfalls nicht gekannt hatte und an den er sich nicht erinnern konnte; aber man hatte ihm erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und sooft er den Friedhof besuchte, be-kreuzigte er sich gläubig und ehrfürchtig vor dem Grab, ver-neigte sich und küßte es.

Und jetzt träumte er, daß er mit seinem Vater auf dem Wege zum Friedhof war und an der Schenke vorbeikam; er

* Eine Speise, die bei der Totenmesse geweiht und dann von den Hinterbliebenen gegessen wird (Anmerkung des Übersetzers).

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hielt die Hand seines Vaters ganz fest und sah voll Furcht zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand zog seine Auf-merksamkeit auf sich: diesmal schien hier eine Art Volks-fest gefeiert zu werden. Er sah eine Reihe geputzte Klein-bürgerinnen, Bauernweiber, ihre Männer und fremdes Gesin-del. Alle waren betrunken; alle grölten Lieder, und vor den Türstufen des Gasthauses hielt ein Wagen – ein beson-derer Wagen. Es war eines jener großen Fuhrwerke, vor die man schwere Zugpferde spannt und mit denen man Waren und Weinfässer transportiert. Von jeher hatte er diese schwe-ren Pferde mit ihren langen Mähnen und den dicken Schen-keln gern gesehen, wenn sie ruhig und gemessen ihres Wegs zogen und einen ganzen Berg hinter sich herschleppten, ohne sich auch nur im geringsten anzustrengen, als gingen sie mit ihrer Ladung sogar leichter als ohne Last. Doch jetzt, und das war das Merkwürdige daran, war vor diesen riesigen Wagen ein kleines, mageres, fuchsbraunes Bauernpferdchen gespannt, wie sie sich oft – er hatte es wieder und wieder be-obachtet – mit einer hohen Fuhre Holz oder Heu abmarter-ten, vor allem wenn der Wagen im Schlamm oder in einem ausgefahrenen Geleise steckenblieb. Und dann schlugen die Bauern immer so unbarmherzig, so unbarmherzig mit der Peitsche auf sie ein, manchmal gerade auf die Schnauze und auf die Augen; er aber hatte solches Mitleid, solches Mit-leid, wenn er das sah, daß ihm stets die Tränen kamen und Mama ihn immer vom Fenster wegführen mußte. Jetzt jedoch brach plötzlich großer Lärm aus: mit Geschrei, und während sie zur Balalaika Lieder sangen, kamen aus der Kneipe stock-besoffene große Bauern heraus, die Jacke über das Hemd geworfen. »Steigt ein, steigt alle ein!« schrie ein noch junger Mann mit dickem Hals und fleischigem Gesicht, das rot war wie eine rote Rübe, »ich bringe euch alle heim, steigt ein!«

Doch sogleich erheben sich Gelächter und Rufe: »Eine solche Schindmähre, und die soll uns fahren?«

»Bist du denn bei Verstand, Mikolka? Wie kannst du bloß diesen Gaul vor einen solchen Wagen spannen?«

»Aber ihr Lieben, der Braune hat gewiß schon seine zwan-zig Jahre auf dem Buckel!«

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»Steigt ein; ich fahre euch alle!« schreit Mikolka zum zwei-tenmal, springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und stellt sich in seiner ganzen Größe auf dem Bock auf. »Der Falbe ist mit Matwej fort«, ruft er vom Wagen herunter, »und dieser Gaul hier reizt mir nur die Galle, Freunde; am liebsten schlüge ich ihn tot; denn er frißt bloß noch, ohne zu arbeiten. Ich sage euch, steigt ein! Wir werden im Galopp fah-ren! Galoppieren muß er!« Und er nimmt die Peitsche voll Genuß in die Hand, bereit, das arme Pferd zu prügeln.

»Einsteigen sagt er!« lacht man in der Menge. »Hört ihr, galoppieren wird es!«

»Das Vieh ist bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr im Galopp gelaufen.«

»Es wird galoppieren!«

»Habt kein Mitleid, ihr Lieben; nehmt jeder eine Peitsche, und los geht's!«

»Los! Peitscht es!«

Alle steigen unter Lachen und Scherzen in Mikolkas Wa-gen. Sechs Leute sind schon aufgestiegen, aber der Wagen faßt noch mehr. Sie nehmen ein Weib mit, dick und rotge-sichtig. Sie trägt Baumwollzeug, einen Kopfputz mit Glas-perlen, hat Bauernschuhe an den Füßen und knackt lachend Nüsse. Auch rings in der Menge wird gelacht, und es ist wahrhaftig zum Lachen: ein so elendes Pferdchen, und soll mit einer solchen Last galoppieren! Zwei Burschen auf dem Wagen nehmen sofort jeder eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. Ein »hü« ertönt; das Pferd zieht mit allen Kräften an, aber nicht einmal im Schritt kommt es von der Stelle, geschweige denn im Galopp; es stampft auf dem Fleck, schnauft und duckt sich unter den niederprasselnden Schlägen der drei Peitschen. Das Gelächter im Wagen und in der Menge ver-doppelt sich, doch Mikolka wird zornig und peitscht jetzt immer öfter voll Wut den Gaul, als glaubte er wirklich, das Tier könnte galoppieren.