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dunkle Augen, war dunkelblond, übermittelgroß, zart und schlank. Doch bald versank er anscheinend in tiefes Sinnen, ja, es wäre sogar richtiger zu sagen: in eine Art Selbstver-gessenheit; und er ging weiter, ohne auf seine Umgebung zu achten, ohne daß er überhaupt den Wunsch gehabt hätte, auf sie zu achten. Nur von Zeit zu Zeit murmelte er etwas vor sich hin, indem er seiner Gewohnheit folgte, mit sich selbst zu sprechen, die er sich eben selbst eingestanden hatte. In diesem Augenblick wurde er sich auch dessen bewußt, daß seine Gedanken manchmal in Verwirrung gerieten und daß er sehr schwach war – er hatte schon den zweiten Tag fast überhaupt nichts gegessen.
Er war so schlecht gekleidet, daß sich ein anderer, selbst wenn er daran gewöhnt gewesen wäre, geschämt hätte, bei Tag in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Allerdings gehörte das Viertel zu jenen Stadtteilen, in denen es schwer-gefallen wäre, jemanden durch schäbige Kleidung in Er-staunen zu setzen. Die Nähe des Heumarktes, die große Zahl gewisser Häuser und die vor allem aus Handwerkern be-stehende Bevölkerung, die sich in diesen ärmlichen Peters-burger Straßen und Gassen zusammendrängte – das alles bestimmte das allgemeine Bild in einer Weise, daß es sonder-bar gewesen wäre, sich bei der Begegnung mit einer Gestalt, wie er es war, zu wundern. Doch in der Seele des jungen Man-nes hatte sich schon so viel bösartige Verachtung angesam-melt, daß er sich trotz aller manchmal sehr jugendlichen Emp-findlichkeit seiner Lumpen am allerwenigsten auf der Straße schämte. Anders war es, wenn er einen Bekannten oder frühe-ren Kameraden traf, denen er überhaupt nicht gerne be-gegnete. Als ihm allerdings ein Betrunkener, den man Gott weiß warum und wohin gerade in einem riesigen leeren Wagen mit einem riesigen Pferd davor durch die Straße fuhr, plötzlich im Vorbeifahren zurief: »He, du da mit dem deut-schen Hut!« und aus vollem Halse grölend mit der Hand auf ihn wies, blieb der junge Mann plötzlich stehen und griff hastig nach seinem Hut. Es war ein hoher runder Hut, in einem guten Geschäft gekauft, aber schon ganz abgenutzt und verschossen, voll Löcher und Flecken, ohne Krempe und auf
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der einen Seite häßlich eingebeult. Aber nicht Scham ergriff ihn, sondern ein ganz anderes Gefühl, das geradezu dem Ent-setzen ähnelte.
Ich habe es ja gewußt! murmelte er verwirrt. Ich habe es mir ja gedacht! Das ist das Schlimmste! Eine solche Dumm-heit, eine alberne Kleinigkeit kann den ganzen Plan zu-schanden machen. Ja, der Hut fällt allzusehr auf ... Er ist komisch und darum auffallend ... Zu meinen Lumpen hätte ich unbedingt eine Mütze nehmen sollen, und hätte sie auch ausgesehen wie ein alter Pfannkuchen, aber nicht dieses Mon-strum. Niemand trägt einen solchen Hut; auf eine Werst be-merkt man ihn schon; man behält ihn im Gedächtnis ... Die Hauptsache ist: man erinnert sich an ihn, und schon ist er ein Beweisstück. Ich hätte etwas möglichst Unauffälliges ge-braucht ... Die Kleinigkeiten sind das Wichtigste, die Kleinig-keiten! ... Solche Kleinigkeiten verderben immer alles! ...
Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wie viele Schritte es von seinem Haustor aus waren: genau sieben-hundert dreißig. Einmal hatte er sie gezählt, als er tief in Gedanken versunken gewesen war. Zu jener Zeit hatte er selber diesen Träumen noch nicht geglaubt und sich nur von ihrer abscheulichen, aber lockenden Kühnheit reizen lassen. Jetzt, nach einem Monat, sah er sie allmählich schon anders an. Trotz allen spöttischen Monologen über die eigene Ohn-macht und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich gerade-zu daran gewöhnt, diese »abscheulichen« Träume als wirkliches Vorhaben zu betrachten, obgleich er es sich selbst immer noch nicht zutraute. Er war jetzt sogar unterwegs, eine Probe für sein Vorhaben zu machen, und mit jedem Schritt wuchs seine Erregung.
Mit stockendem Herzen und nervösem Zittern gelangte er zu einem riesengroßen Haus, das mit der einen Front auf einen Kanal und mit der anderen auf die N.-Straße ging. Dieses Haus war in lauter kleine Wohnungen aufgeteilt und wurde von allerhand Gewerbetreibenden bewohnt – von Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von verschiedenen Deut-schen, von Mädchen, die auf die Straße gingen, von kleinem Beamtenvolk und ähnlichen Leuten. Ständig gingen durch
die beiden Tore des Hauses und die zwei Höfe Menschen aus und ein. Es gab drei oder vier Hausknechte. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen begegnete und unbemerkt gleich vom Tor nach rechts ins Treppenhaus schlüpfen konnte. Die Treppe war dunkel und schmal, ein Hinteraufgang, aber er kannte das alles schon und hatte es studiert, und ihm gefiel diese ganze Umgebung: in solcher Dunkelheit war sogar ein neugieriger Blick ungefährlich. Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, was ist dann, wenn es wirklich zur Tat selbst kommen sollte? ... fragte er sich unwillkürlich, während er zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier ver-stellten ihm Lastträger, ehemalige Soldaten, den Weg, die Möbel aus einer Wohnung heraustrugen. Er wußte von frü-her her, daß in dieser Wohnung ein Deutscher mit seiner Familie lebte, ein Beamter. Offenbar zieht der Deutsche jetzt aus. Dann ist also für die nächste Zeit im vierten Stock auf dieser Treppe nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... für alle Fälle ... dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Klingel läutete schwach, als wäre sie aus Blech und nicht aus Messing. In den kleinen Wohnungen solcher Häu-ser sind fast alle Klingeln so. Er hatte den Klang der Glocke schon vergessen, und jetzt schien ihn dieser besondere Ton plötzlich an etwas zu erinnern und es ihm klar vor Augen zu führen ... Er zuckte heftig zusammen; seine Nerven wa-ren schon allzusehr geschwächt. Nach kurzer Zeit wurde die Tür einen winzigen Spalt weit geöffnet; die Inhaberin der Wohnung musterte den Ankömmling durch den Spalt mit sichtlichem Mißtrauen, und man sah nur ihre aus dem Dunkel leuchtenden kleinen Augen. Als sie aber die vielen Leute auf dem Treppenabsatz erblickte, wurde sie kühner und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in eine dunkle Diele; sie war in der Mitte durch eine Bretterwand geteilt, hinter der eine winzige Küche lag. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Sie war eine sehr kleine, dürre alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, bösen, kleinen Augen, einer kleinen spitzen Nase und bloßem Kopf. Ihr weißblondes, kaum er-grautes Haar war dick mit Fett eingeschmiert. Um den
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dünnen langen Hals, der aussah wie ein Hühnerbein, hatte sie einen Flanellappen gewickelt, und über die Schultern hing ihr trotz der Hitze ein völlig abgetragener, vergilbter Pelz-kragen. Die Alte hustete und krächzte in einem fort. Offen-bar sah sie der junge Mann mit einem auffallenden Blick an; denn in ihren Augen blitzte plötzlich wieder das frühere Mißtrauen auf.
»Raskolnikow, Student; ich war schon vor einem Monat bei Ihnen«, murmelte der junge Mann hastig, während er sich halb verneigte; denn es fiel ihm ein, daß er recht höflich sein mußte.
»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß sehr gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte deutlich, ohne ihren fragenden Blick von seinem Gesicht zu wenden.
»Nun also ... ich komme wieder in der gleichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verwirrt und verwundert durch das Mißtrauen der Alten.
Vielleicht ist sie immer so, und ich habe es damals nur nicht gemerkt, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.
Die Alte schwieg, als dächte sie nach, dann trat sie zur Seite, zeigte auf die Tür, die ins Wohnzimmer führte, und sagte, während sie den Gast vorangehen ließ: »Treten Sie ein, lieber Herr.«
Das kleine Zimmer, das der junge Mann betrat, ein Raum mit gelben Tapeten, mit Geranien und Musselingardinen an den Fenstern, war in diesem Augenblick von der untergehen-den Sonne hell erleuchtet. Auch dann wird die Sonne so scheinen ...! fuhr es Raskolnikow plötzlich durch den Kopf, und mit einem raschen Blick überflog er alle Gegenstände im Zimmer, um sich ihre Lage nach Möglichkeit einzuprägen und zu merken. Aber hier gab es nichts Besonderes. Die Einrich-tung – ausnahmslos sehr alte Möbel aus gelbem Holz – bestand aus einem Diwan mit einer gewaltigen gebogenen Holzlehne, einem ovalen Tisch vor dem Diwan, einem Toi-lettentischchen mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fen-stern, Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen darstellten. Das war alles. In der Ecke brannte