Selbst wenn er Jahre auf eine günstige Gelegenheit für sein Vorhaben gewartet hätte, so hätte sich ihm kein besserer Hin-weis bieten können, wie dieses Vorhaben mit Sicherheit in die Tat umgesetzt werden könnte, als jener Wink, der ihm da gegeben worden war. Jedenfalls wäre es schwierig ge-wesen, am Tag vorher mit Gewißheit, mit größter Genauig-keit, und ohne das geringste Risiko einzugehen, ohne irgendwelche gefährlichen Erkundigungen und Nachforschun-gen zu erfahren, daß morgen um soundsoviel Uhr jene Alte, der der Anschlag galt, mutterseelenallein zu Hause sein werde.
Später erfuhr Raskolnikow durch Zufall, weshalb der Kleinbürger und seine Frau eigentlich Lisaweta zu sich einge-laden hatten. Die Sache verhielt sich ganz einfach und war nicht im geringsten bemerkenswert. Eine verarmte Familie von auswärts hatte verschiedenes Zeug zu veräußern, Frauen-sachen, Kleider und dergleichen. Da es unvorteilhaft war, so etwas auf dem Markt zu verkaufen, suchten die Leute eine Vermittlerin, und Lisaweta befaßte sich mit solchen Ge-schäften: sie nahm Waren in Kommission, schloß in frem-dem Auftrag Geschäfte ab und hatte eine zahlreiche Kund-schaft, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten Preis nannte; und bei dem Preis, den sie bot, blieb es dann auch. Sie sprach überhaupt wenig und war, wie bereits ge-sagt, sehr still und schüchtern ...
Raskolnikow aber war in letzter Zeit abergläubisch gewor-den. Spuren dieses Aberglaubens verlor er auch lange Zeit hernach nicht; sie waren fast nicht auszurotten. Und er neigte später immer dazu, in dieser ganzen Sache gleichsam eine
seltsame Fügung zu sehen, etwas Geheimnisvolles, das dem Vorhandensein besonderer Einflüsse und Konstellationen zu-zuschreiben war. Schon im Winter hatte ihm Pokorjow, ein ihm bekannter Student, ehe er nach Charkow abreiste, irgend-einmal im Gespräch die Adresse der alten Aljona Iwanowna genannt, für den Fall, daß Raskolnikow etwas versetzen wolle. Lange war er nicht zu ihr gegangen, weil er Stunden gab und sich schlecht und recht damit durchbringen konnte. Vor etwa anderthalb Monaten jedoch war ihm die Adresse wieder eingefallen. Er besaß zwei Dinge, die er versetzen konnte: die alte silberne Uhr seines Vaters und einen klei-nen Goldring mit drei roten Steinchen, den ihm seine Schwester beim Abschied als Andenken geschenkt hatte. Er entschloß sich, den Ring hinzutragen; als er die Alte endlich ausfindig gemacht hatte, empfand er schon beim ersten Blick, noch ohne von ihr etwas Besonderes zu wissen, unüberwind-lichen Abscheu vor ihr; er erhielt zwei »Scheinchen« und ging auf dem Rückweg in ein schäbiges kleines Gasthaus. Er be-stellte Tee, setzte sich und dachte angestrengt nach. Ein selt-samer Gedanke drängte in seinem Kopf ans Licht, wie sich ein Küken durch die Eierschale pickt, und beschäftigte ihn sehr, beschäftigte ihn unablässig.
Beinahe neben ihm saßen damals an einem anderen Tisch-chen ein Student, den er nicht kannte und nie gesehen hatte, und ein junger Offizier. Sie hatten Billard gespielt und tran-ken jetzt Tee. Plötzlich hörte er, wie der Student dem Offizier von der Wucherin Aljona Iwanowna, der Kollegienre-gistratorswitwe, erzählte und ihm ihre Adresse gab. Dies allein schon hielt Raskolnikow für höchst bedeutsam: er kam gerade von dort und hörte jetzt wieder von ihr. Natürlich war das ein Zufall, aber er konnte einen höchst ungewöhn-lichen Eindruck nicht loswerden. Und als wollte ihm jemand gleichsam zu Hilfe eilen, begann der Student plötzlich sei-nem Gefährten verschiedene Einzelheiten über diese Aljona Iwanowna zu berichten.
»Sie ist famos!« sagte er. »Bei ihr bekommt man immer Geld. Reich ist sie wie ein Jude, sie kann fünftausend auf einmal auf den Tisch legen, aber auch Pfänder für einen
Rubel sind ihr nicht zu gering. Von unsern Leuten gehen viele zu ihr. Nur ist sie ein greuliches Aas ...«
Und er erzählte, wie böse und launenhaft sie war; man brauchte die Frist nur um einen einzigen Tag zu über-schreiten, und schon war das Pfand verfallen. Sie gab für die Sachen ein Viertel des Wertes und verlangte im Monat fünf, ja sogar sieben Prozent, und so weiter. Der Student war richtig in Schwung gekommen und berichtete außerdem noch, daß die Alte eine Schwester habe, namens Lisaweta, die sie, obgleich sie selber so klein und garstig sei, ständig schlage und in völliger Sklaverei halte wie ein kleines Kind; dabei sei Lisaweta zumindest acht Werschok groß ...
»Wahrhaftig, ein Phänomen!« rief der Student unter lau-tem Lachen.
Er begann von Lisaweta zu sprechen. Er erzählte von ihr mit einem seltsamen, besonderen Vergnügen und lachte in einem fort, und der Offizier hörte ihm mit großem Interesse zu und bat den Studenten, ihm diese Lisaweta zum Ausbes-sern der Wäsche zu schicken. Raskolnikow ließ sich kein ein-ziges Wort entgehen und erfuhr auf diese Weise mit einem-mal alles: Lisaweta war die jüngere Schwester der alten Frau, ihre Stiefschwester – von einer anderen Mutter her –, und zählte schon fünfunddreißig Jahre. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester, vertrat im Haus die Stelle einer Köchin und Wäscherin, schneiderte nebenbei außer Haus und ging sogar Fußböden scheuern – und alles, was sie verdiente, lieferte sie der Schwester ab. Keinen Auftrag und keine Arbeit wagte sie zu übernehmen, ohne daß es die Alte erlaubt hätte. Die hatte bereits ihr Testament gemacht, was Lisaweta auch wußte, die nach diesem Letzten Willen keinen Groschen zu bekommen hatte, außer der beweglichen Habe, den Stüh-len und sonstigen Gegenständen; das gesamte Geld fiel einem Kloster im Gouvernement N. zu, ihres Seelenheiles halber. Lisaweta kam nicht aus dem Beamtenstand, sondern war Kleinbürgerin; sie war unvermählt, ziemlich unansehnlich, ungewöhnlich groß, hatte lange, gleichsam nach außen ge-drehte Beine und trug stets schiefgetretene Schuhe aus Ziegen-leder; sonst aber war sie sehr reinlich. Worüber der Student
jedoch am meisten lachte und staunte, das war die Tatsache, daß Lisaweta jeden Augenblick schwanger war ...
»Du sagst aber doch, sie sei so häßlich?« warf der Offi-zier ein.
»Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe und sieht aus wie ein verkleideter Soldat, aber weißt du, häßlich ist sie eigentlich nicht. Ihr Gesicht und ihre Augen sind gut. Sehr gut sogar. Ein Beweis dafür – sie gefällt vielen. Sie ist überaus still, sanft, friedfertig und fügsam und schickt sich in alles. Und ihr Lächeln wirkt sogar sehr hübsch.«
»Mir scheint, sie gefällt auch dir!« rief der Offizier lachend.
»Ja, weil sie so sonderbar ist; aber höre, ich muß dir etwas sagen: ich könnte dieses verdammte alte Weib erschlagen und ausrauben, und ich versichere dir, daß ich das ohne die ge-ringsten Gewissensbisse täte!« sagte der Student hitzig.
Wieder lachte der Offizier laut auf, und Raskolnikow er-schauerte. Wie seltsam das war!
»Erlaube mir, ich möchte eine ernste Frage an dich richten«, begann der Student von neuem. »Ich habe jetzt natürlich Spaß gemacht, aber sieh einmaclass="underline" da ist auf der einen Seite ein dummes, nutzloses, nichts würdiges, böses, krankes altes Weib, das kein Mensch braucht und das im Gegenteil allen schadet, das selber nicht weiß, wozu es auf der Welt ist, und morgen ohnedies ganz von selbst sterben wird. Verstehst du? Verstehst du?«
»Nun ja«, erwiderte der Offizier, während er den in Hitze geratenen Gefährten aufmerksam betrachtete.
»Hör weiter! Und auf der anderen Seite gibt es junge, un-verbrauchte Kräfte, die ohne Unterstützung nutzlos verkom-men, und das zu Tausenden, überall! Da sind hundert, tausend gute Werke und Unternehmungen, die man mit dem Geld der Alten beginnen und richtig zu Ende führen könnte, mit dem Geld, das einem Kloster vermacht ist! Da sind hundert, tausend Existenzen, die vielleicht auf den rich-tigen Weg gebracht, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Zersetzung, dem Untergang, dem Laster, der Syphilisabteilung eines Krankenhauses gerettet werden könn-