ten – und all das mit dem Geld dieses Weibes! Bring sie um und nimm ihr ihr Geld, und dann widme dich mit dessen Hilfe dem Ziel, der ganzen Menschheit und der gemeinsamen Sache zu dienen – was meinst du: wird dieses eine winzige Verbrechen nicht durch die Tausende von guten Werken auf-gewogen werden? Für ein Leben tausend Leben, gerettet vor Fäulnis und Untergang; ein Tod und dafür hundertfaches Leben – das nenne ich ein einfaches Rechenexempel! Und wieviel ist denn, alles in allem genommen, das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen, bösen alten Frau wert? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe, und nicht einmal das: denn das alte Weib ist schädlich. Sie frißt frem-des Leben; sie ist böse; unlängst hat sie Lisaweta im Zorn in den Finger gebissen; beinahe hätte man ihn abschneiden müssen!«
»Natürlich ist sie es nicht wert, daß sie lebt«, bemerkte der Offizier; »aber auch die Natur hat ihre Rechte.«
»Ach, mein Lieber, die Natur wird doch auch korrigiert und gelenkt, sonst müßten wir in Vorurteilen ersticken. Ohne das hätte es keinen einzigen großen Menschen gegeben. Man sagt: ,Pflicht, Gewissen' – ich will nichts dagegen einwenden, aber was verstehen wir denn unter Pflicht und Gewissen? Halt, ich will dir noch eine Frage vorlegen. Höre!«
»Nein, höre du; jetzt will ich dich etwas fragen!«
»Und?«
»Du redest so schön daher wie ein Redner, aber sag mir das eine: könntest du selber die alte Frau umbringen oder nicht?«
»Natürlich nicht! Ich spreche nur davon, daß es gerecht wäre ... Ich habe damit nichts zu tun ...«
»Und ich finde, daß hier von Gerechtigkeit keine Rede sein kann, solange du nicht selbst zu einer solchen Tat bereit bist! Komm, spielen wir noch eine Partie!«
Raskolnikow war außerordentlich erregt. Natürlich war das ein ganz gewöhnliches Gespräch, und ähnliche Gedanken hatte er schon mehr als einmal unter jungen Leuten erörtern hören, nur in anderer Form und über andere Themen. Aber warum hatte es sich so gefügt, daß er gerade jetzt ein solches Gespräch und solche Gedanken hatte mit anhören müssen,
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jetzt, da in seinem eigenen Kopf eben erst ... genau dieselben Gedanken aufgekeimt waren? Und wie kam es, daß er gerade jetzt, da er eben erst von der Alten weggegangen war, die solche Gedanken in ihm wachgerufen hatte, ein Gespräch über sie mit anhören mußte?... Dieses Zusammentreffen erschien ihm später immer in einem merkwürdigen Licht. Das an sich so unbedeutende Gespräch in einem Gasthaus übte bei der weiteren Entwicklung des Falles einen außerordentlich star-ken Einfluß auf ihn aus, als hätte hier in der Tat eine Vor-ausbestimmung gewaltet, eine höhere Weisung ...
Als er vom Heumarkt heimgekommen war, sank er auf den Diwan und blieb eine ganze Stunde regungslos sitzen. Indes war es dunkel geworden; er hatte keine Kerze, und es kam ihm auch gar nicht der Gedanke, Licht zu machen. Er konnte sich später nie entsinnen, ob er in dieser Zeit an irgend etwas gedacht hatte oder nicht. Schließlich spürte er wieder das Fieber von vorhin, ein Schauer überlief ihn, und voll Freude stellte er fest, daß er sich auf dem Diwan ja auch niederlegen könnte. Bald übermannte ihn ein fester, blei-schwerer Schlaf, der ihn gleichsam erdrückte.
Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Als Nastasja am nächsten Morgen um zehn Uhr in sein Zimmer kam, konnte sie ihn nur mit Mühe wachrütteln. Sie brachte ihm Tee und Brot. Wiederum war der Tee zum zweitenmal auf-gegossen, und wieder brachte ihn Nastasja in ihrer eigenen Teekanne.
»Da schläft er schon wieder!« rief sie entrüstet. »Immerzu muß er schlafen!«
Mit Anstrengung richtete er sich auf. Er hatte Kopf-schmerzen; er versuchte aufzustehen, drehte sich in seinem Kämmerchen um und sank auf den Diwan zurück.
»Schon wieder schlafen!« schrie Nastasja. »Bist du am Ende krank? Wie?«
Er gab keine Antwort.
»Willst du Tee?«
»Später«, stieß er mühsam hervor, während er von neuem die Augen schloß und sich zur Wand drehte.
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Nastasja pflanzte sich vor ihm auf.
»Vielleicht ist er wirklich krank«, sagte sie, drehte sich um und verließ das Zimmer.
Um zwei Uhr kam sie mit der Suppe wieder. Er lag noch immer wie am Morgen da. Der Tee war unberührt. Nastasja war geradezu beleidigt und begann ihn zornig zu rütteln.
»Was schläfst du da!« schrie sie und musterte ihn voller Ab-scheu. Er richtete sich auf und setzte sich, sagte aber nichts und sah zu Boden.
»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja und erhielt wiederum keine Antwort. »Du solltest wenigstens auf die Straße gehen«, sagte sie nach kurzem Schweigen, »und dich auslüften. Willst du etwas essen?«
»Später«, stieß er matt hervor. »Geh jetzt!«
Und mit einer Handbewegung wies er sie hinaus.
Sie blieb noch ein wenig stehen, blickte ihn mitleidig an und ging.
Nach einigen Minuten hob er die Augen und betrachtete lange den Tee und die Suppe. Dann griff er nach dem Brot, nahm den Löffel und begann zu essen.
Er aß wenig, ohne Appetit und gleichsam mechanisch; etwa drei oder vier Löffel Suppe. Sein Kopf schmerzte nicht mehr so sehr. Nach dem Essen streckte er sich von neuem auf dem Diwan aus, konnte jedoch nicht wieder einschlafen, sondern lag regungslos auf dem Bauch da, das Gesicht ins Kissen ge-preßt. Er phantasierte während der ganzen Zeit, und die Bil-der, die er sich ausmalte, waren eines seltsamer als das andere: zumeist stellte er sich vor, er wäre irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane rastete; friedlich lagen die Kamele da; ringsum im Kreis wuchsen Palmen; alle aßen. Er aber trank immer wieder Wasser, gleich aus einer Quelle, die neben ihm murmelnd hervorsprudelte. Und es war so kühl, und das blaue Wasser war so wundervoll, so wundervoll kalt; es plätscherte über bunte Steine und über sauberen, goldig schimmernden Sand ... Plötzlich hörte er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr zusammen, kam zu sich, hob den Kopf, sah durchs Fenster, fragte sich, welche Zeit es wohl sein mochte, und sprang plötzlich auf, völlig wach, als
hätte ihn jemand vom Diwan gerissen. Auf Fußspitzen ging er zur Tür, öffnete sie leise einen Spalt weit und begann ins Treppenhaus hinauszulauschen. Sein Herz klopfte schreck-lich, doch auf der Treppe war es ganz still, als ob alle schlie-fen ... Unbegreiflich und wunderbar kam es ihm vor, daß er seit dem gestrigen Tag so tief hatte durchschlafen können und noch nichts getan, noch nichts vorbereitet hatte ... Indessen hatte es jetzt vielleicht schon sechs Uhr geschlagen ... Ein un-gewöhnlicher, fieberhafter, hektischer Eifer überkam ihn plötzlich an Stelle des Schlafes und der Stumpfheit von vor-her. Übrigens hatte er nur wenige Vorbereitungen zu treffen. Er spannte die letzten Kräfte an, um an alles zu denken und nichts zu vergessen; und dabei schlug ihm das Herz; es häm-merte so sehr, daß er kaum noch zu atmen vermochte. Als erstes mußte er eine Schlinge anfertigen und innen an seinem Mantel annähen – das mochte eine Minute in Anspruch neh-men. Er griff unter das Kissen und kramte aus der darunter-gestopften Wäsche ein schmutziges Hemd hervor, das alt und schon völlig zerrissen war. Von diesem Fetzen riß er einen Streifen von einem Werschok Breite und etwa acht Wer-schok Länge ab. Den Streifen legte er doppelt zusammen, zog sich dann den weiten, dicken, aus irgendeinem festen Baumwollstoff gemachten Sommermantel aus – sein einziges Überkleid – und begann beide Enden des Streifens innen unter der linken Achsel festzunähen. Seine Hände zitterten dabei, doch er brachte die Arbeit so gut zustande, daß von außen nichts zu sehen war, als er den Mantel wieder anzog. Nadel und Faden, schon lange vorbereitet, hatte er, in Papier eingeschlagen, in seinem Nachttisch aufbewahrt. Was die Schlinge anging, so war das ein sehr geschickter Einfall von ihm: die Schlinge war für das Beil bestimmt. Es wäre doch nicht gegangen, auf der Straße ein Beil in der Hand zu tragen! Und wenn er es unter dem Mantel versteckte, mußte er es ja doch mit der Hand festhalten, was genauso aufge-fallen wäre. Jetzt jedoch, da er die Schlinge hatte, brauchte er das Beil nur mit dem Blatt hineinzuhängen, und dann hing es während des ganzen Weges ruhig unter seiner Achsel. Steckte er jedoch die Hand in die Seitentasche des Mantels, so