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konnte er auch noch das Ende des Griffes festhalten, damit das Werkzeug nicht baumelte; und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack, konnte es von außen gar niemand merken, wenn er durch das Taschenfutter mit der Hand etwas festhielt. Diese Schlinge hatte er sich schon vor etwa zwei Wochen ausgedacht.
Als er mit dem Nähen der Schlinge fertig war, steckte er die Finger in den kleinen Zwischenraum zwischen seinem »türkischen« Diwan und dem Fußboden, suchte links in der Ecke und zog das schon lange vorbereitete und hier verborgene Pfand hervor. Dieses Pfand war freilich gar kein Wert-gegenstand, sondern einfach ein glattgehobeltes Holzbrett-chen, nicht größer und dicker, als es eine silberne Zigaretten-dose hätte sein können. Das Brett hatte er bei einem seiner Spaziergänge zufällig in einem Hof gefunden, wo in einem Nebengebäude irgendeine Werkstatt untergebracht war. Dann hatte er zu dem Brettchen noch eine glatte, dünne kleine Eisenplatte getan – gewiß war das irgendein Abfall –, die er an demselben Tag gleichfalls gefunden hatte. Er hatte die beiden Tafeln, von denen die eiserne kleiner war, aufeinander-gelegt, sie dann kreuzweise mit einer Schnur fest zusammen-gebunden und sie schließlich sorgfältig und hübsch in reines weißes Papier gewickelt und die Schnur so zugeknotet, daß sie sich möglichst schwer aufknüpfen ließ. Das alles hatte er getan, um die Aufmerksamkeit der alten Frau eine Zeitlang abzulenken, während sie sich an dem Knoten zu schaffen machte; inzwischen konnte er den richtigen Augenblick ab-passen. Die Eisenplatte hatte er des Gewichtes wegen genom-men, damit die Alte nicht gleich im ersten Moment dahinter-kam, daß das »Pfand« aus Holz war. Das Ganze hatte er vorläufig unter seinem Diwan aufbewahrt.
Kaum hatte er das Pfand hervorgezogen, erklang plötz-lich irgendwo auf dem Hof der Ruf: »Es ist schon lange sieben Uhr!«
Schon lange! O du mein Gott!
Er stürzte zur Tür, lauschte, nahm seinen Hut und begann die dreizehn Stufen von seiner Kammer bis zur Wohnung der Wirtin vorsichtig und lautlos wie eine Katze hinabzu-
schleichen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor – das Beil aus der Küche zu holen. Daß er die Tat mit dem Beil begehen werde, hatte er schon längst entschieden. Er besaß noch ein zusammenklappbares Gartenmesser; doch auf das Messer und insbesondere auf die eigenen Kräfte wollte er sich nicht ver-lassen, und darum war er endgültig bei dem Beil geblieben. Wir wollen bei dieser Gelegenheit eine Eigentümlichkeit all der endgültigen Beschlüsse festhalten, die er in dieser Ange-legenheit bereits gefaßt hatte. Sie hatten eine erstaunliche Eigenschaft: je endgültiger sie wurden, desto häßlicher und alberner waren sie im gleichen Moment in seinen eigenen Au-gen. Trotz all seinem qualvollen inneren Kampf konnte er während dieser ganzen Zeit nicht für einen einzigen Augen-blick daran glauben, daß seine Pläne durchführbar wären.
Und hätte es sich irgendeinmal so gefügt, daß er alles bis in die letzte Einzelheit erwogen und endgültig beschlossen und auch die geringste Unklarheit ausgeschaltet hätte, dann hätte er sich bestimmt endgültig von all dem als von einer Dumm-heit und Unmöglichkeit losgesagt. Aber es war noch ein ganzer Abgrund voll unentschiedener Punkte und Zweifel geblieben. Was jedoch die Frage betraf, wo er das Beil hernehmen sollte, so beunruhigte ihn diese Kleinigkeit nicht im geringsten; denn nichts war leichter als das. Nastasja pflegte nämlich, vor allem am Abend, jeden Augenblick aus dem Hause zu laufen: entweder ging sie zu Nachbarn oder in den Kram-laden, und stets blieb die Tür offen. Das war der einzige Grund, weshalb die Hauswirtin immer wieder mit ihr zankte. Er brauchte also nur, sobald die Zeit gekommen war, leise in die Küche zu schleichen, das Beil zu holen und es dann nach einer Stunde, wenn alles vorbei war, wieder zurückzu-legen. Aber auch da stiegen ihm Zweifel auf: angenommen, er kam nach einer Stunde zurück, um das Beil wiederzubrin-gen, und Nastasja war gleichsam wie zum Trotz schon zurück-gekehrt? Natürlich mußte er dann vorbeigehen und warten, bis sie wieder die Wohnung verließ. Wie aber, wenn sie ge-rade dann nach dem Beil greifen wollte, es zu suchen begann und Geschrei erhob? Allein das hätte schon Verdacht erregt oder zumindest Anlaß zu einem Verdacht gegeben.
Aber das waren nebensächliche Dinge, über die er nicht näher nachdachte und für die er auch keine Zeit hatte. Er sann über die Hauptsache nach und verschob die Einzelheiten bis zu dem Zeitpunkt, da er sich selber von allem über-zeugen mußte. Eben das stellte sich jedoch ganz entschieden als undurchführbar heraus. So schien es wenigstens ihm selber. Er konnte sich zum Beispiel nicht vorstellen, daß er einmal mit Nachdenken aufhören, aufstehen und – einfach dorthin gehen würde ... Sogar die Probe, die er vor kurzem ange-stellt hatte – das heißt, der Besuch, den er gemacht hatte, um sich endgültig mit der örtlichkeit vertraut zu machen –, hatte er nur anzustellen probiert, aber nicht etwa im Ernst, sondern nur so: Ich will einmal hingehen und einen Versuch machen; wozu das ewige Träumen! – Und dann hatte er nicht durchgehalten, hatte darauf gepfiffen und war voll Ab-scheu und Wut gegen sich selbst davongelaufen. Indes hatte er, was die moralische Lösung des Problems betraf, die ganze Analyse, wie es schien, schon durchgeführt; seine Kasuistik war zugeschliffen wie ein Rasiermesser, und er selber konnte keine bewußten Einwände mehr finden. Doch letztlich glaubte er einfach sich selbst nicht und suchte, nach allen Seiten tastend, hartnäckig und sklavisch nach Einwänden, als ob ihn jemand dazu nötigte und dazu hinzöge. Der letzte Tag, der auf so unvermutete Art mit einem Schlag alles entschieden hatte, wirkte fast rein mechanisch auf ihn, als hätte ihn irgendwer bei der Hand genommen und mitgezogen, unwiderstehlich, blindlings, mit übernatürlicher Macht, die keinen Widerspruch duldete, genauso, als wäre er mit einem Stück seiner Kleidung in das Rad einer Maschine gekommen und würde jetzt mitge-rissen.
Anfangs – übrigens schon vor langer Zeit – beschäftigte ihn unter anderem die Frage: Warum werden Verbrechen fast immer so leicht aufgespürt und entdeckt und warum sind die Spuren fast aller Verbrecher so leicht zu finden? Allmäh-lich gelangte er zu dem vieldeutigen, interessanten Schluß, daß die Hauptursache nicht so sehr in der praktischen Unmög-lichkeit liege, ein Verbrechen zu verbergen, wie vielmehr in dem Verbrecher selbst; der Verbrecher, fast jeder Verbrecher,
erliegt im Augenblick seiner Tat irgendeinem Versagen des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein phänomenaler kindlicher Leichtsinn tritt, und zwar gerade dann, wenn Ver-nunft und Vorsicht am allernötigsten wären. Nach seiner Überzeugung lag die Sache so, daß diese Verdunklung des Verstandes und dieses Versagen des Willens den Menschen wie eine Krankheit befielen, sich allmählich entwickelten und kurze Zeit, ehe das Verbrechen begangen wurde, auf ihren Höhe-punkt gelangten; im Augenblick des eigentlichen Verbrechens oder noch etwas länger blieben sie auf diesem Höhepunkt, je nach der einzelnen Persönlichkeit, dann vergingen sie, wie irgendeine andere Krankheit vergeht. Die Frage war: Er-zeugt die Krankheit das Verbrechen, oder ist das Verbrechen selbst irgendwie seiner besonderen Natur nach immer von einer Art Krankheit begleitet? Diese Frage zu entscheiden, fühlte er sich noch nicht imstande.