Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, fand er, daß ihm persönlich bei seinem Vorhaben solche krankhaften Umwälzungen nicht zustoßen könnten. Er würde im vollen Besitz seines Verstandes und seines Willens bleiben, würde über sie verfügen können, während er seinen Plan in die Tat umsetzte, einzig weil das, was er plante, »kein Verbrechen« war ... Wir wollen jedoch den ganzen Prozeß beiseite lassen, durch den er zu dieser Entscheidung gekommen war; wir haben ohnedies schon allzusehr vorgegriffen. Wir möchten nur so viel hinzufügen, daß die faktischen, rein materiellen Schwierigkeiten dieser Sache in seinem Denken überhaupt eine höchst zweitrangige Rolle spielten. »Man braucht nur seinen ganzen Willen und seinen ganzen Verstand zu behal-ten, und die materiellen Schwierigkeiten werden zur rechten Zeit überwunden, wenn es gilt, sich mit allen Einzelheiten der Tat bis zu den unscheinbarsten Punkten vertraut zu machen ...« Aber die Tat wurde nicht in Angriff genommen. Immer weniger glaubte er an seine endgültigen Entschlüsse, und als die Stunde geschlagen hatte, kam alles ganz anders, irgendwie unversehens, ja, fast unerwartet.
Ein völlig unbedeutender Umstand trieb ihn in die Enge, noch ehe er die Treppe hinabgestiegen war. Als er zur Küche
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kam, deren Tür wie immer weit geöffnet war, spähte er vorsichtig hinein, um sich zu überzeugen, ob nicht während der Abwesenheit Nastasjas die Hauswirtin selbst da wäre und, falls sie nicht da war, ob die Tür zu ihrem Zimmer gut ver-schlossen wäre, damit nicht auch sie irgendwie herausschauen könnte, wenn er das Beil holte. Doch wie groß war sein Staunen, als er entdeckte, daß Nastasja diesmal nicht nur zu Hause und in ihrer Küche war, sondern dort auch noch arbeitete! Sie nahm Wäsche aus einem Korb und hängte sie auf eine Leine. Als sie ihn erblickte, unterbrach sie ihre Arbeit, wandte sich zu ihm und sah ihn so lange an, bis er vorüber war. Er wandte den Blick ab und ging seines Weges, als hätte er nichts bemerkt. Aber mit seinem Plan war es aus: er hatte das Beil nicht! Er war zutiefst betroffen.
Wieso glaubte ich nur, dachte er, während er durch den Hausflur zum Tor ging, wieso glaubte ich nur, daß sie gerade in diesem Augenblick nicht zu Hause sein würde? Warum, warum, warum habe ich das so bestimmt angenommen? Er war niedergeschmettert, geradezu irgendwie gedemütigt. Er hatte Lust, vor Zorn sich selbst auszulachen ... Stumpfe, tie-rische Wut kochte in ihm.
Unter dem Tor blieb er nachdenklich stehen. Auf die Straße zu gehen und nur so, der Form halber, einen Spaziergang zu machen war ihm widerlich; nach Hause zurückzukehren noch widerlicher. Was für eine Gelegenheit habe ich da ein für allemal versäumt! murmelte er vor sich hin, während er unschlüssig im Tor stand, gerade vor dem dunklen Zimmer des Hausknechts, das ebenfalls offen war. Plötzlich erschauerte er am ganzen Körper. Im Zimmer des Hausknechts, zwei Schritt von ihm entfernt, funkelte ihm rechts unter der Bank etwas in die Augen. Er blickte sich nach allen Seiten um – niemand war da. Auf den Fußspitzen schlich er zu dem Zim-mer hin, stieg die zwei Stufen hinab und rief mit matter Stimme nach dem Hausknecht. Tatsächlich – niemand ist zu Hause! Wahrscheinlich wird er irgendwo in der Nähe sein, auf dem Hof, denn die Tür steht weit offen. Er stürzte sich hastig auf das Beil – es war ein Beil –, zog es unter der Bank hervor, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag; an Ort
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und Stelle, noch im Zimmer, befestigte er es in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ die Haus-knechtswohnung; niemand hatte ihn bemerkt! Wenn die Ver-nunft am Ende ist, dann hilft der Teufel weiter! dachte er mit einem verzerrten Lachen. Dieser Zufall hatte ihn außer-ordentlich ermutigt.
Still und gemessen ging er seines Weges, ohne Hast, um keinerlei Argwohn zu erwecken. Er sah die Leute, die ihm entgegen kamen, kaum an und bemühte sich sogar, ihnen überhaupt nicht ins Gesicht zu schauen, um möglichst wenig aufzufallen. Da fiel ihm sein Hut ein. Du mein Gott! Und vorgestern hatte ich Geld und konnte ihn nicht gegen eine Mütze austauschen! Ein Fluch entrang sich ihm aus tiefster Seele.
Zufällig blickte er im Vorübergehen in einen Laden und sah, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten nach sieben zeigte. Er mußte sich beeilen, gleichzeitig aber einen Umweg machen – er mußte um das Haus herumgehen, damit er es von der anderen Seite erreichte ...
Wenn er sich das früher in seiner Phantasie ausgemalt hatte, war er manchmal der Meinung gewesen, er werde große Angst haben. Aber er hatte jetzt keine große Angst, er hatte überhaupt keine Angst. In diesem Augenblick beschäftigten ihn sogar ganz nebensächliche Gedanken, allerdings nie für lange. Als er am Jusupow-Garten vorbeikam, dachte er so-gar intensiv darüber nach, wie es wäre, hier hohe Springbrun-nen anzulegen, und wie gut diese auf allen Plätzen die Luft erfrischen würden. Allmählich gelangte er zu der Überzeu-gung, daß es für die Stadt ganz herrlich und überaus zweck-dienlich wäre, wenn man den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnte und ihn sogar noch mit dem Garten beim Michail-Palais vereinigte. Im Zusammenhang damit inter-essierte ihn plötzlich die Frage, warum der Mensch in allen großen Städten weniger aus Notwendigkeit als vielmehr aus ganz bestimmten anderen Gründen dazu neigt, sich gerade in solchen Stadtteilen anzusiedeln und zu wohnen, in denen es keine Gärten und keine Springbrunnen gibt, sondern nur Schmutz und Gestank und allerlei Häßliches. Dabei fielen ihm
seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkt ein, und er kam für einen Augenblick zur Besinnung. Was für Dummhei-ten, sagte er sich. Nein, am besten denke ich an überhaupt nichts!
So klammern sich gewiß jene, die zur Hinrichtung geführt werden, mit ihren Gedanken an alle Gegenstände, die ihnen unterwegs begegnen, fuhr es ihm blitzartig durch den Kopf; doch er verjagte diesen Gedanken möglichst rasch wieder ... Jetzt war er schon ganz nahe; da war das Haus, da das Tor. Irgendwo schlug plötzlich eine Uhr einmal. Wie, ist es wirk-lich schon halb acht? Das kann nicht sein; gewiß geht sie vor!
Zu seinem Glück verlief im Tor alles ohne Zwischenfall. Und nicht nur das: wie absichtlich fuhr in ebendiesem Augen-blick gerade vor ihm ein hoher Wagen mit Heu durch das Tor und verdeckte ihn völlig, solange er durch den Hausflur ging; und sobald der Wagen aus dem Torweg in den Hof gelangt war, huschte Raskolnikow blitzschnell nach rechts. Von der anderen Seite des Wagens her waren Rufe und einige streitende Stimmen zu vernehmen, aber niemand bemerkte ihn, und niemand kam ihm entgegen. Von den Fenstern, die auf den großen quadratischen Hof schauten, waren viele geöffnet, doch er hob den Kopf nicht – er hatte nicht die Kraft dazu. Die Treppe, die zur Wohnung der Alten hin-aufführte, war ganz nah; sie ging gleich rechts von der Ein-fahrt ab. Schon stand er auf der Treppe.
Mit verhaltenem Atem und die Hand auf das pochende Herz gepreßt, tastete er sogleich nach dem Beil und schob es zurecht, während er vorsichtig und leise die Stufen hinauf-stieg und jeden Augenblick lauschte. Aber auch die Treppe war zu dieser Zeit ganz verlassen; alle Türen waren ver-schlossen; niemand kam ihm entgegen. Im zweiten Stock aller-dings war eine leerstehende Wohnung weit geöffnet; An-streicher arbeiteten darin, doch sie blickten nicht einmal auf. Er blieb eine Weile stehen, dachte nach und ging dann weiter. – Natürlich wäre es besser, wenn diese Leute überhaupt nicht hier wären, aber ... über ihnen liegen noch zwei Stock-werke.
Und da war das vierte Stockwerk; da war die Tür, da war