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Doch eine Art Verwirrung und Nachdenklichkeit bemäch-tigte sich allmählich seiner; für Minuten schien er sich selbst zu vergessen, oder besser gesagt, er vergaß alles, was wichtig war, und klammerte sich an Nichtigkeiten. Unter anderem blickte er in die Küche und sah dort auf der Bank einen Eimer stehen, halb voll Wasser, und kam auf den Gedanken,

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seine Hände und das Beil zu waschen. Seine Hände waren voll Blut und klebten. Er steckte das Beil mit der Klinge ins Wasser, nahm dann ein Stückchen Seife, das in einer zerbrochenen Untertasse auf dem Fensterbrett lag, und be-gann sich in dem Eimer die Hände zu waschen. Sodann zog er das Beil aus dem Wasser, wusch das Eisen und danach längere Zeit, etwa drei Minuten lang, den Holzgriff, wo die-ser blutig geworden war, und versuchte das Blut sogar mit Seife zu entfernen. Nun trocknete er alles mit Wäschestücken ab, die auf einer quer durch die Küche gespannten Leine zum Trocknen hingen, und schaute sich das Beil lange Zeit auf-merksam vorm Fenster an. Es waren keine Spuren zurück-geblieben; nur der Griff war noch feucht. Sorgfältig hängte er das Beil in die Schlinge unter seinem Mantel. Dann unter-zog er, soweit das Licht in der trüben Küche das zuließ, seinen Mantel, seine Hose und seine Stiefel einer genauen Musterung. Rein äußerlich und auf den ersten Blick schien nichts zu sehen zu sein; nur die Stiefel hatten Flecke. Er machte einen Lappen naß und rieb damit die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß er nicht gründlich geschaut hatte, daß vielleicht noch irgend etwas Auffälliges da war, das er nicht bemerkt hatte. Nachdenklich blieb er mitten in der Küche ste-hen. Ein quälender, düsterer Gedanke stieg in ihm auf – der Gedanke, daß er verrückt wäre und in diesem Augenblick nicht die Kraft hätte, nachzudenken, sich zu verteidigen, daß er vielleicht ganz etwas anderes tun müßte, als er jetzt tat ... O Gott! Ich muß fliehen, fliehen! murmelte er vor sich hin und eilte in den Flur. Doch hier erwartete ihn ein Ent-setzen, wie er es gewiß noch nie erlebt hatte.

Er stand da, schaute und konnte seinen Augen nicht trauen: die Tür, die äußere Tür, die ins Treppenhaus führte, die Tür, an der er vor kurzem geklingelt hatte und durch die er eingetreten war, diese Tür stand offen, sogar eine Handbreit offen – kein Schloß, kein Riegel war vorgelegt während die-ser ganzen, ganzen Zeit! Die Alte hatte hinter ihm nicht zu-geschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber du lieber Gott! Er hatte später ja Lisaweta gesehen! Und wie war es nur mög-lich, wie war es möglich, nicht daran zu denken, daß sie ja

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irgendwo hereingekommen sein mußte! Sie war doch nicht durch die Wand gegangen!

Er stürzte zur Tür und legte den Riegel vor.

Aber nein, wieder falsch! Ich muß weg, weg ...

Er schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und begann ins Treppenhaus hinunterzuhorchen.

Lange lauschte er so. Irgendwo, weit unten, wahrschein-lich in der Toreinfahrt, schrien Stimmen laut und kreischend, stritten und fluchten. Was wollen sie? ... Er wartete gedul-dig. Endlich war alles mit einem Schlag still, jedes Geräusch war wie abgeschnitten; die Leute hatten sich entfernt. Er wollte schon gehen, doch plötzlich wurde ein Stockwerk tie-fer knarrend die Tür zum Treppenhaus geöffnet, und jemand stieg hinab, wobei er eine Melodie vor sich hinsummte. Was für einen Lärm sie alle machen! fuhr es ihm durch den Kopf. Wieder schloß er die Tür hinter sich und wartete. Endlich war alles still, keine Menschenseele war mehr zu hören. Er lief schon auf die Treppe zu, als er plötzlich abermals Schritte vernahm.

Diese Schritte kamen von weit her, ganz von unten, aber er erinnerte sich später noch sehr gut und mit aller Deutlich-keit daran, daß er im selben Augenblick, gleich beim ersten Geräusch, aus irgendeinem Grunde zu argwöhnen begann, jemand komme gerade hierher, in das vierte Stockwerk, zu der Alten. Warum? Klangen die Schritte etwa so einmalig, so bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige Schritte, die Schritte eines Menschen, der keine Eile hat. Jetzt hatte er schon das erste Stockwerk erreicht; jetzt stieg er weiter, das Geräusch wurde deutlicher und deutlicher. Raskolnikow hörte sein schweres Keuchen. Nun war er schon auf dem dritten Treppenabsatz .. . Er kam hierher! Und plötzlich war es Raskolnikow, als wäre er zu Stein erstarrt, als wäre das alles ein böser Traum: man träumt, daß man verfolgt wird, daß die Verfolger schon nahe sind und einen töten wollen, während man selbst wie angewurzelt an Ort und Stelle steht und nicht einmal die Hände rühren kann.

Erst als der Besucher die letzte Treppe heraufstieg, zuckte Raskolnikow plötzlich am ganzen Körper zusammen. Er

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vermochte gerade noch rasch und gewandt in die Wohnung zu schlüpfen und die Tür hinter sich zu schließen. Dann griff er zum Riegel und schob ihn leise und unhörbar vor. Sein Instinkt half ihm. Als er damit fertig war, verbarg er sich, ohne zu atmen, gleich hinter der Tür. Der Besucher ließ einige Male ein schweres Schnaufen hören. Er ist offenbar dick und groß, dachte Raskolnikow, während er das Beil fester in die Hand nahm. Wahrhaftig, es war ihm, als er-lebte er das alles im Traum. Der Besucher griff nach dem Klingelzug und läutete fest.

Sowie die Glocke scheppernd zu rasseln begann, hatte Raskolnikow den Eindruck, daß sich etwas im Zimmer regte. Einige Sekunden horchte er angespannt hin. Der Unbekannte klingelte noch einmal, wartete und begann dann mit einem-mal ungeduldig und mit aller Kraft an der Türklinke zu rütteln. Voll Entsetzen sah Raskolnikow, wie der Knopf des Riegels in seinem Scharnier hüpfte, und er wartete mit stump-fer Furcht darauf, daß jeden Augenblick der Riegel heraus-spränge. Und wirklich schien das möglich zu sein, so heftig riß der Fremde an der Tür ... Raskolnikow dachte sogar daran, den Riegel mit der Hand festzuhalten, doch jener hätte das durchschauen können. Wieder drehte sich ihm alles vor Augen. Gleich werde ich hinstürzen! durchfuhr es ihn; doch der Unbekannte fing an zu sprechen, und Raskolnikow kam sofort zur Besinnung.

»Ja, was ist denn? Schlafen die Weiber, oder hat sie je-mand erwürgt? Diese verfluchte Bande!« grölte der Mann; es dröhnte, als säße er in einem Faß. »He, Aljona Iwanowna, Sie alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, Sie unbeschreibliche Schönheit! Aufmachen! Dieses verdammte Pack, schlaft ihr vielleicht?«

Und wieder riß er voll Wut, etwa zehnmal hintereinan-der, mit aller Kraft an der Glocke. Er mußte ein herrischer Mensch sein, der hier gut bekannt war.

Im selben Augenblick ließen sich plötzlich kurze, hastige Schritte nicht weit auf der Treppe vernehmen. Es kam noch jemand. Raskolnikow hatte es bis jetzt gar nicht gehört.

»Ist wirklich niemand da?« rief der Neuankömmling laut

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und fröhlich, indem er sich an den ersten Besucher wandte, der noch immer an der Klingel zog. »Seien Sie gegrüßt, Koch!«

Nach der Stimme zu schließen, muß er noch ziemlich jung sein, dachte Raskolnikow.

»Weiß der Teufel; beinahe hätte ich schon das Schloß ge-sprengt«, antwortete Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn eigentlich?«