Er war fast ohne Besinnung; je weiter er ging, desto schlimmer wurde es. Er entsann sich jedoch, wie er plötzlich, als er an das Ufer des Kanals gekommen war, darüber er-schrak, daß hier so wenig Leute waren. Er mußte hier noch mehr auffallen und wollte wieder in die Gasse zurücklaufen. Obwohl er zum Umfallen müde war, machte er dennoch einen Umweg und kam von einer ganz anderen Seite nach Hause.
Halb bewußtlos betrat er die Toreinfahrt; er stand schon im Treppenhaus, da fiel ihm das Beil wieder ein. Eine höchst wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor: er mußte das Beil noch zurücklegen, so unbemerkt es nur ging. Er hatte nicht mehr die Kraft zu erwägen, daß es gewiß weit besser ge-wesen wäre, das Beil nicht an die frühere Stelle zurückzule-gen, sondern es vielleicht später einmal irgendwo in einem fremden Hof zu lassen.
Doch alles lief gut ab. Die Tür zu der Hausknechtswoh-nung war zwar geschlossen, aber nicht zugesperrt. Folglich befand sich allem Anschein nach der Hausknecht in seiner Wohnung. Aber Raskolnikow hatte die Fähigkeit, über ir-gend etwas nachzudenken, schon in so hohem Maße verloren, daß er geradewegs zu der Hausknechtswohnung ging und die Tür öffnete. Hätte ihn der Hausknecht gefragt, was er wolle, er hätte ihm vielleicht ohne Umschweife das Beil ge-reicht. Aber der Mann war wieder nicht zu Hause, und Ras-kolnikow konnte das Beil an seinen alten Platz unter der Bank zurücklegen und es sogar noch mit einem Holzscheit zudecken.
Niemandem, keiner einzigen Menschenseele, begegnete er dann auf dem Weg zu seinem Zimmer; die Tür der Haus-wirtin war verschlossen. Als er in seine Stube trat, warf er sich, wie er war, auf den Diwan. Er schlief nicht, aber er
befand sich in einer Art Dämmerzustand. Wäre jetzt jemand in sein Zimmer gekommen, Raskolnikow wäre sogleich aufge-sprungen und hätte zu schreien begonnen. Bruchstücke irgend-welcher Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf; aber er vermochte keinen festzuhalten, bei keinem zu verweilen, so große Mühe er sich auch gab ...
ZWEITER TEIL
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So lag er sehr lange. Gelegentlich wachte er halb auf, und dann bemerkte er, daß es bereits tiefe Nacht war; aber er dachte nicht daran, aufzustehen. Schließlich sah er, daß der Tag heraufzog. Er lag rücklings auf dem Diwan, noch erstarrt in dem früheren Dämmerzustand. Schrill klangen furchtbare, verzweifelte Schreie von der Straße zu ihm herauf, wie er sie übrigens jede Nacht gegen drei Uhr unter seinem Fenster hörte. Sie hatten ihn auch jetzt geweckt.
Ah! Jetzt kommen die Betrunkenen aus den Kneipen, dachte er. Es ist drei Uhr! – und plötzlich sprang er auf, als ob ihn jemand vom Diwan gerissen hätte. Wie! Schon drei! Er setzte sich wieder, und jetzt erinnerte er sich an alles. Plötzlich, im Augenblick fiel ihm alles wieder ein!
In der ersten Sekunde dachte er, er müsse verrückt wer-den. Ein furchtbarer Kälteschauer überlief ihn, aber diese Kälte rührte nur von dem Fieber her, das ihn schon befallen hatte, während er schlief. Ein solcher Schüttelfrost hatte ihn gepackt, daß ihm die Zähne klapperten und sich ihm alles nur so drehte. Er öffnete die Tür und lauschte: das ganze Haus lag in tiefem Schlaf. Voll Staunen betrachtete er sich selbst und alles ringsum in seinem Zimmer. Ihm war es un-faßlich, daß er gestern beim Heimkommen den Riegel nicht vor die Tür gelegt und sich nicht nur in seinen Kleidern, sondern sogar mit dem Hut auf dem Kopf aufs Lager gewor-fen hatte – der Hut war heruntergefallen und lag auf dem Boden, neben dem Kissen. Wenn jemand hereingekommen wäre, was hätte er sich denken müssen? Daß ich betrunken bin; aber ... Er eilte zum Fenster. Es war genügend hell, und er begann sich rasch zu mustern, von Kopf bis Fuß, alle seine Kleidungsstücke, ob nicht noch irgendwelche Spu-ren daran seien. Aber auf diese Weise war nichts zu sehen; zitternd vor Schüttelfrost zog er sich ganz aus und blickte
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sich wieder im Kreise um. Er wendete die Sachen hin und her, untersuchte sie bis zum letzten Faden und Flicken, und da er sich selber nicht traute, wiederholte er diese Besichti-gung noch dreimal. Doch er fand nichts; anscheinend war keine Spur zurückgeblieben; nur unten an der Hose, wo sie ab-genutzt und ausgefranst war, klebte an den Fransen dickes, geronnenes Blut. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Sonst schien nichts weiter dazusein. Plötzlich entsann er sich, daß der Geldbeutel und die Gegen-stände, die er aus dem Koffer der Alten genommen hatte, noch immer in seinen Taschen waren. Bisher hatte er nicht daran gedacht, sie hervorzuholen und zu verstecken! Er hatte sich nicht einmal jetzt an sie erinnert, während er seine Klei-der untersuchte! Wie konnte das sein? Augenblicklich nahm er sie aus den Taschen und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles herausgenommen und sogar seine Taschen umgedreht hatte, um sich zu überzeugen, daß nicht noch etwas zurück-geblieben sei, trug er den ganzen Haufen in eine Ecke. In dieser Ecke war unten an einer Stelle die von der Wand ab-stehende Tapete zerrissen, und er stopfte hastig den ganzen Kram unter die Tapete. Es geht hinein! Fort mit allem, aus meinen Augen, auch mit dem Geldbeutel! dachte er freudig, während er stehenblieb und mit stumpfem Blick in die Ecke auf das Loch in der Tapete starrte, das jetzt noch weiter klaffte. Plötzlich zuckte er vor Entsetzen am ganzen Körper zusammen. Du lieber Gott, flüsterte er verzweifelt, was ist denn nur los mit mir? Ist das etwa ein Versteck? Versteckt man etwas auf diese Weise?
Freilich hatte er nicht auf Wertgegenstände gerechnet, son-dern geglaubt, er werde nur Geld finden, und darum war es ihm nicht eingefallen, im voraus über einen Platz für die Sachen nachzudenken. Aber jetzt, worüber habe ich mich denn jetzt bloß gefreut? fragte er sich. Versteckt man denn etwas auf diese Weise? Mein Verstand läßt mich wahrhaftig im Stich! Erschöpft setzte er sich auf den Diwan, und sogleich überfielen ihn wieder unerträgliche Kälteschauer. Mechanisch zog er seinen alten Studentenmantel, der neben ihm auf einem Stuhl lag, zu sich, einen warmen Wintermantel, der jetzt
fast ganz zerfetzt war, deckte sich damit zu und versank wieder in Schlaf und Fieberdelirien. Er verlor abermals das Bewußtsein.
Nach höchstens fünf Minuten sprang er jedoch wieder auf und stürzte wie toll von neuem zu seinen Kleidern. Wie konnte ich bloß wieder einschlafen, obwohl noch gar nichts geschehen ist! Ein so schwerwiegender Beweis!
Er riß die Schlinge aus dem Mantel und zerfetzte sie mög-lichst rasch in kleine Stücke, die er in die Wäsche unter sei-nem Kissen steckte. Einzelne Leinwandfetzen werden in keinem Fall verdächtig sein, will mir scheinen; so will mir scheinen! wiederholte er, während er in der Mitte des Zim-mers stand und mit schmerzlich angespannter Aufmerksam-keit wieder Umschau hielt, auf dem Boden und überall rings-um, ob er nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das Gedächtnis, sogar das primitivste Denk-vermögen, ihn jetzt im Stich lasse, begann ihm unerträg-liche Qualen zu bereiten. Wie, beginnt es wirklich schon? Kommt jetzt schon die Strafe? Tatsächlich, da, es ist so! Und wahrhaftig, die von seiner Hose abgeschnittenen Fransen lagen mitten im Zimmer, so daß der erstbeste, der den Raum betrat, sie gleich sehen konnte! Ja, was ist denn nur mit mir? wiederholte er, als wäre er seiner Sinne nicht mächtig!
Jetzt kam ihm ein seltsamer Gedanke: Es wäre doch mög-lich, daß alle seine Kleidungsstücke voll Blut waren, daß viel-leicht viele Flecke darauf waren und er sie nur nicht gesehen, nicht bemerkt hatte, weil sein Denkvermögen geschwächt und zerfahren ... weil sein Verstand umdüstert war ... Plötzlich entsann er sich: auch auf dem Geldbeutel war Blut gewesen. Ah! Folglich muß auch in der Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel gleich in die Tasche gesteckt habe! Im Nu hatte er die Tasche umgedreht, und wahrhaftig, im Fut-ter fanden sich Blutspuren, Flecke! Offenbar bin ich doch noch nicht ganz von Sinnen; offenbar funktioniert mein Denkver-mögen und mein Gedächtnis noch, wenn ich von selbst darauf gekommen bin und es erraten habe! dachte er triumphierend, während er aus tiefer Brust freudig aufatmete. Es war nur