fieberhafte Schwäche, ein minutenlanges Delirium – und er riß die ganze linke Tasche aus der Hose. In diesem Augen-blick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Socken, der aus dem Stiefel hervorsah, schienen Flecke zu sein. Er zog den Stiefel aus. Wirklich, hier ist Blut! Die ganze Fußspitze ist mit Blut durchtränkt! Offenbar war er unvorsichtig gewesen und in die Blutlache getreten ... Aber was soll ich jetzt damit machen? Wohin mit dem Socken, mit den Fransen, der Tasche?
Er knüllte alles in der Hand zusammen und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. In den Ofen? Im Ofen sucht man zuerst! Verbrennen? Aber womit? Ich habe nicht einmal Zünd-hölzer. Nein, besser wäre es, aus dem Haus zu gehen und alles wegzuwerfen. Ja! Am besten wegwerfen! wiederholte er für sich, während er sich abermals auf den Diwan setzte. Und zwar gleich, noch in dieser Minute, ohne zu zögern! ... Doch statt dessen sank sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder überfielen ihn eisige Kälteschauer; wieder zog er den alten Studentenmantel über sich. Und ein paar Stunden lang durchzuckten ihn immer wieder Gedankenfetzen: Gleich, so-fort muß ich irgendwohin gehen und alles wegwerfen, damit es mir aus den Augen kommt; nur schnell, nur schnell! Einige Male riß es ihn hoch, und er wollte aufstehen, brachte es aber nicht fertig. Schließlich weckte ihn heftiges Klopfen an der Tür.
»So mach doch auf! Lebst du überhaupt noch, oder bist du tot? Immerzu muß er schlafen!« schrie Nastasja und häm-merte mit der Faust gegen die Tür. »Den lieben langen Tag verschläft er wie ein Hund! Und ein Hundevieh ist er auch! Aufmachen, hörst du! Es ist elf.«
»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, erwiderte eine Män-nerstimme.
Oho! das ist die Stimme des Hausknechts ... was will er denn?
Raskolnikow fuhr auf und setzte sich. Sein Herz schlug so heftig, daß es ihn geradezu schmerzte.
»Und wer hat den Riegel vorgeschoben?« wandte Nastasja ein. »Jetzt fängt er gar noch an, sich einzuschließen! Als ob
man ihn wegtragen wollte! Mach auf, du Neunmalkluger, wach auf!«
Was wollen die beiden nur? Und wozu ist der Hausknecht da? Sicher ist schon alles bekannt. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Hol sie der Teufel ...
Er richtete sich auf, beugte sich vor und schob den Riegel zurück.
Sein Zimmer war so klein, daß er den Riegel zurückschie-ben konnte, ohne vom Diwan aufzustehen.
Und richtig: da standen der Hausknecht und Nastasja.
Nastasja musterte ihn irgendwie sonderbar. Mit heraus-fordernder und verzweifelter Miene sah er den Hausknecht an. Der reichte ihm schweigend ein graues, einfach zusammen-gefaltetes, mit Lack versiegeltes Schriftstück.
»Eine Vorladung, du sollst aufs Revier kommen«, sprach er, während er ihm das Schriftstück gab.
»Auf welches Revier? ...«
»Eine Vorladung der Polizei; du sollst aufs Revier kom-men. Jeder weiß doch, was das ist.«
»Zur Polizei? ... Weshalb? ...«
»Woher soll ich das wissen? Man lädt dich vor, und du mußt hingehen.«
Aufmerksam betrachtete er Raskolnikow, sah sich rasch im Zimmer um und wandte sich zum Gehen.
»Bist du am Ende wirklich krank?« fragte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte ihm flüchtig noch einmal den Kopf zu. »Seit gestern hat er Fie-ber«, fügte sie hinzu.
Raskolnikow antwortete nichts und hielt das Papier in Händen, ohne es auseinanderzufalten.
»So bleib doch liegen«, sprach Nastasja weiter, die voll Mitleid sah, wie er die Füße vom Diwan nahm. »Du bist krank, so geh doch nicht hin; es wird schon nicht brennen. Was hast du denn da in der Hand?«
Er blickte hin: in seiner rechten Hand hielt er die abge-schnittenen Hosenfransen, den Socken und die Fetzen der her-ausgerissenen Tasche. Mit ihnen in der Hand hatte er also geschlafen. Als er später drüber nachdachte, erinnerte er sich,
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daß er, sooft er aus seinen Fieberträumen halb erwacht war, das alles fest in der Hand gehalten hatte und dann wieder eingeschlafen war.
»Nein, was für Lappen, was für Lappen er da aufgelesen hat, und er schläft damit, als wäre es ein Schatz ...« Nastasja brach in ihr krankhaft nervöses Lachen aus.
Sofort schob er alles unter den Studentenmantel und starrte sie unverwandt an. Obgleich er in diesem Augenblick nur sehr wenig vernünftige Erwägungen anstellen konnte, fühlte er doch, daß man nicht so mit jemandem sprach, wenn man kam, um ihn festzunehmen. Aber die Polizei? dachte er.
»Trink doch Tee! Willst du, ja? Ich bringe ihn dir; es ist noch welcher da ...«
»Nein ... ich gehe hin; ich gehe jetzt gleich«, murmelte er, während er aufstand.
»Daß du mir nicht die Treppe hinunterfällst!«
»Ich gehe ...«
»Wie du willst.«
Sie folgte dem Hausknecht. Sogleich stürzte Raskolnikow zum Fenster, um den Socken und die Fransen anzusehen. Flecke sind da, aber sie fallen nicht sehr auf; alles ist schmut-zig, verwischt und schon verblaßt. Wer es nicht weiß, wird nichts entdecken. Nastasja konnte aus der Entfernung be-stimmt nichts sehen, Gott sei Dank! Nun öffnete er zitternd die Vorladung und las; lange, lange Zeit las er, und endlich hatte er verstanden. Es war eine ganz gewöhnliche Auffor-derung, heute um halb zehn in der Kanzlei des Revierinspek-tors zu erscheinen.
Wozu das? dachte er. Was mich betrifft, so habe ich doch nichts mit der Polizei zu schaffen! Und warum gerade heute? Die Ungewißheit quälte ihn. Du lieber Gott, wenn ich es nur rasch hinter mir hätte! Er wollte schon auf die Knie sinken, um zu beten, doch dann mußte er selber lachen – nicht über das Gebet, sondern über sich. Rasch kleidete er sich an. Wenn ich verloren bin, bin ich eben verloren; es gilt alles gleich! – Den Socken sollte ich anziehen! fiel ihm plötz-lich ein. Er wird dann noch schmutziger, und das Blut ist
fast nicht mehr zu sehen. Doch kaum hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich voll Abscheu und Entsetzen wieder vom Fuß riß. Er rollte ihn zusammen, doch als er sich über-legte, daß er keinen anderen hatte, nahm er ihn wieder, zog ihn zum zweitenmal an – und lachte abermals. Es ist alles bedingt; alles ist relativ; all das sind nur äußere Formen, dachte er flüchtig, in einem versteckten Winkel seines Gehirns; zugleich zitterte er am ganzen Körper. – Siehst du, jetzt hast du ihn angezogen. Hast ihn doch schließlich angezogen! Sein Lachen wich aber sofort der Verzweiflung. Nein, es übersteigt meine Kräfte ... dachte er. Seine Beine schlotter-ten. Vor Angst! murmelte er vor sich hin. Sein Kopf schwin-delte und schmerzte vor Fieber. Es ist eine Falle! Sie wollen mich mit List dorthinlocken und mich dann plötzlich des Verbrechens überführen, dachte er, während er auf die Treppe trat. Schlimm ist nur, daß ich hohes Fieber habe ... Da kann ich irgendwelche Dummheiten schwatzen ...
Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen in dem Loch unter der Tapete zurückgelassen hatte. Vielleicht wollen sie in meiner Abwesenheit eine Haussuchung vornehmen, dachte er und blieb stehen. Doch es hatten sich seiner auf einmal solche Verzweiflung und, wenn man so sagen darf, ein solcher Zynismus des Untergangs bemächtigt, daß er ab-winkte und weiterging.