»Schreiben Sie also«, sagte der Schriftführer zu Raskolni-kow.
»Was denn?« fragte dieser mit besonderer Grobheit.
»Ich werde es Ihnen diktieren.«
Raskolnikow hatte den Eindruck, als behandelte ihn der Schriftführer nach seiner Beichte nachlässiger und gering-
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schätziger, doch sonderbarerweise wurde er plötzlich selber völlig gleichgültig gegen die Meinung irgendeines Menschen; dieser Umschwung hatte sich irgendwie in einem einzigen Augenblick, in einer einzigen Sekunde vollzogen. Hätte er nur ein wenig nachdenken wollen, er wäre bestimmt erstaunt gewesen, daß er zu diesen Leuten vor einer Minute noch so hatte sprechen und ihnen sogar seine Gefühle hatte aufdrän-gen können. Woher kam bloß dieser Gefühlsumschwung? Wären jetzt im Zimmer plötzlich nicht Polizeibeamte, son-dern seine nächsten Freunde gewesen, er hätte für sie wohl kein einziges menschliches Wort gefunden, so sehr war sein Herz mit einemmal verödet. Das düstere Gefühl qualvoller, endloser Einsamkeit und Entfremdung wurde unversehens seiner Seele bewußt. Nicht die Niedrigkeit seiner Herzens-ergüsse vor Ilja Petrowitsch, nicht die Niedrigkeit, die in dem Triumph des Leutnants über ihn lag, hatten ihm plötz-lich das Herz so verwandelt. Oh, was kümmerte ihn jetzt die eigene Gemeinheit, was gingen ihn all diese ehrgeizigen Bestrebungen an, die Leutnants, deutschen Weiber, Geldfor-derungen, Ämter und so weiter und so weiter! Wäre er in diesem Augenblick sogar zum Tod durch Verbrennen verur-teilt worden, er hätte sich nicht gerührt, hätte kaum das Ur-teil aufmerksam angehört. In ihm war etwas vorgegangen, das ihm völlig unbekannt und neu war, etwas Plötzliches, noch nie Erlebtes. Er verstand nicht nur, sondern empfand auch klar, fühlte mit aller Kraft der Empfindung, daß er sich, ganz abgesehen von sentimentalen Weitschweifigkeiten wie vorhin, überhaupt mit nichts mehr an die Leute in diesem Polizeirevier wenden durfte, selbst wenn sie alle seine leib-lichen Brüder und Schwestern gewesen wären und nicht Polizeioffiziere; er spürte, daß er in gar keinem Falle auch nur den geringsten Anlaß gehabt hätte, sich an sie zu wenden. Noch nie hatte er bis zu dieser Minute eine ähnlich sonder-bare und entsetzliche Empfindung gehabt. Und was am qual-vollsten war – es handelte sich hier mehr um eine Emp-findung als um ein Wissen, ein Erkennen; nein, um eine unmittelbare Empfindung, die quälendste von allen, die er bisher in seinem Leben erfahren hatte.
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Der Schriftführer diktierte ihm nun die in solchen Fällen übliche Erklärung, das heißt: daß er nicht zahlen könne, daß er jedoch für dann und dann – für irgendwann – die Zahlung verspreche, daß er die Stadt nicht verlassen, seine Habe nicht verkaufen oder verschenken werde, und dergleichen mehr.
»Aber Sie können ja gar nicht schreiben; Ihnen fällt ja die Feder aus der Hand«, bemerkte der Schriftführer und musterte Raskolnikow neugierig. »Sind Sie krank?«
»Ja ... der Kopf dreht sich mir ... Diktieren Sie weiter!«
»Es ist schon fertig; unterschreiben Sie.«
Der Schriftführer nahm das Papier an sich und wandte sich dann anderen Akten zu.
Raskolnikow gab die Feder zurück, doch statt sich zu er-heben und wegzugehen, stützte er beide Ellbogen auf den Tisch und hielt sich den Kopf mit den Händen. Ihm war, als schlüge man ihm einen Nagel ins Gehirn. Ein seltsamer Ge-danke drängte sich ihm auf: sogleich aufzustehen, zu Niko-dim Fomitsch hinzutreten und ihm zu erzählen, was gestern vorgefallen war, alles bis zur letzten Einzelheit, dann gemein-sam mit den Polizeibeamten in seine Wohnung zu gehen und ihnen dort in der Ecke, in dem Loch unter der Tapete, die Sachen zu zeigen. Dieses Verlangen war so stark, daß er schon aufstand, um seine Absicht wahrzumachen. Soll ich nicht wenigstens eine Minute noch darüber nachdenken? über-legte er. Nein, lieber nicht, und ich bin die Last los! Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach eifrig auf Ilja Petrowitsch ein, und seine Worte dran-gen zu ihm herüber: »Das kann nicht sein; man wird beide freilassen müssen. Es spricht alles dagegen; bedenken Sie nur: wozu hätten sie den Hausknecht gerufen, wenn sie die Täter gewesen wären? Um sich selber zu überführen, wie? Oder aus Schlauheit? Nein, das wäre schon allzu raffiniert! Und schließlich haben beide Hausknechte und die Kleinbürgerin den Studenten Pestrjakow am Tor in dem Augenblick ge-sehen, als er eintrat: er war mit drei Freunden gekommen und verabschiedete sich von ihnen unmittelbar vor dem Tor; und dann fragte er die Hausknechte nach der Wohnung, während seine Freunde noch da waren. Fragt etwa ein Ver-
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brecher nach der Wohnung, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Und was Koch betrifft, so saß der, ehe er zu der Alten ging, eine halbe Stunde unten bei dem Silber-schmied und begab sich dann genau um dreiviertel acht von ihm zu der alten Frau. Jetzt überlegen Sie einmal ...«
»Aber erlauben Sie, wie erklären Sie sich dann diesen Widerspruch: die Leute behaupten selber, sie hätten ge-klopft, und die Tür wäre verschlossen gewesen; aber als sie drei Minuten später mit dem Hausknecht zurückkamen, zeigte sich, daß die Tür offen war?«
»Das ist es eben: der Mörder war ohne Zweifel in der Wohnung und hatte den Riegel vorgeschoben; und ohne Zweifel wäre er dort gefaßt worden, hätte Koch nicht die Dummheit begangen, ebenfalls zu dem Hausknecht zu gehen. Und gerade in dieser Zeit konnte der Verbrecher die Treppe hinuntergehen und irgendwie an ihnen vorbeikommen. Koch bekreuzigt sich jetzt noch mit beiden Händen. ,Wäre ich dort geblieben', sagt er, ,er wäre aus der Wohnung gestürzt und hätte auch mich mit dem Beil erschlagen.' Er will sogar eine Dankmesse lesen lassen – hehehe!«
»Und den Mörder hat niemand gesehen?«
»Wie denn? Das Haus ist die reinste Arche Noah«, mischte sich der Schriftführer ein, der von seinem Platz aus zuge-hört hatte.
»Der Fall liegt klar; der Fall liegt klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch hitzig.
»Nein, der Fall ist höchst dunkel«, widersprach Ilja Petrowitsch.
Raskolnikow nahm seinen Hut und wollte zur Tür gehen, aber er kam nicht bis zur Tür ...
Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, bemerkte er, daß er auf einem Stuhl saß, daß ihn ein Mann auf der rechten Seite stützte, daß links von ihm ein anderer Mann ein gelbes Glas mit gelbem Wasser in der Hand hielt und daß Nikodim Fomitsch vor ihm stand und ihn unverwandt ansah. Er er-hob sich von dem Stuhl.
»Was fehlt Ihnen? Sind Sie krank?« fragte Nikodim Fo-mitsch ziemlich schroff.
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»Der Herr hat schon beim Unterschreiben kaum die Feder halten können«, erklärte der Schriftführer, während er sich wieder an seinen Platz setzte und neuerlich seine Akten zu studieren begann.
»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Tisch aus und blätterte ebenfalls in den Akten. Natür-lich hatte auch er den Kranken betrachtet, während dieser nicht bei Bewußtsein gewesen war; doch sobald Raskolnikow wieder zur Besinnung kam, hatte sich Ilja Petrowitsch sofort an seinen Platz zurückbegeben.
»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow.
»Und sind Sie gestern aus dem Haus gegangen?«
»Ja.«
»Trotz Ihrer Krankheit?«
»Ja.«
»Um wieviel Uhr?«
»Gegen acht Uhr abends.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Auf die Straße.«
»Das ist kurz und bündig.«
Raskolnikow hatte schroff und knapp geantwortet; er war weiß wie ein Leintuch und schlug die schwarzen, entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitschs nicht nieder.
»Der Mann kann sich ja kaum auf den Beinen halten, und du ...« warf Nikodim Fomitsch ein.