Sein Gerede schien allgemeine, wenngleich stumpfe Auf-merksamkeit zu erwecken. Die Burschen hinter dem Schank-tisch begannen zu kichern. Der Wirt schien absichtlich aus dem oberen Zimmer heruntergekommen zu sein, um dem »unterhaltsamen Kerl« zuzuhören, und setzte sich abseits, während er träge, aber nachdrücklich gähnte. Offenbar war Marmeladow hier schon seit langem bekannt. Und auch die Neigung, sich besonders gewählt auszudrücken, hatte er wohl infolge der Gewohnheit, häufig mit verschiedenen Un-bekannten Wirtshausgespräche zu führen, angenommen. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis, vor allem bei jenen Trinkern, denen man zu Hause mit Strenge und Mißachtung begegnet. Daher trachten sie in Gesellschaft anderer Trinker immer eine Art Rechtfertigung ihrer selbst zu finden und womöglich sogar Respekt einzuflößen.
»Ein unterhaltsamer Kerl!« sagte der Wirt laut. »Und warum arbeitest du nicht? Warum gehen Sie nicht in den Dienst, wenn Sie Beamter sind?«
»Warum ich nicht in den Dienst gehe, sehr geehrter Herr?« erwiderte Marmeladow, wobei er sich ausschließlich an Ras-kolnikow wandte, als hätte er diese Frage an ihn gerichtet. »Warum ich nicht arbeite? Tut mir denn das Herz nicht weh, wenn ich vergebens im Staub kriechen muß? Als Herr Le-besjatnikow meine Gemahlin vor einem Monat eigenhändig verprügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht
gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, hatten Sie schon Ge-legenheit ... hm ... nun, sagen wir, sich Geld ausborgen zu wollen, und zwar ohne jede Hoffnung?«
»Das ist schon vorgekommen ... Aber wieso ohne Hoff-nung?«
»Das heißt völlig ohne Hoffnung; man weiß vorher schon, daß man keinen Erfolg haben wird. Man weiß zum Beispiel im voraus, weiß es ganz genau, daß dieser Mensch, dieser höchst edelgesinnte, höchst nützliche Staatsbürger, einem um keinen Preis Geld geben wird – denn weshalb, so frage ich Sie, soll er es einem geben? Er weiß doch, daß man es ihm nicht zurückzahlen wird. Aus Mitleid? Aber Herr Lebesjat-nikow, der den neuen Gedanken anhängt, hat unlängst er-klärt, Mitleid werde in unserer Zeit sogar von der Wissen-schaft verboten; man halte das in England so, wo es die Nationalökonomie gibt. Weshalb, so frage ich Sie, sollte er einem Geld geben? Und da, obwohl Sie im voraus wissen, daß er Ihnen nichts geben wird, machen Sie sich trotzdem auf den Weg und ...«
»Aber wozu gehen Sie zu ihm?« warf Raskolnikow ein.
»Und wenn man niemanden weiter hat, wenn man sonst nirgends mehr hin kann? Jeder Mensch muß sich doch we-nigstens irgendwohin wenden können! Denn es gibt Augen-blicke, da man sich unbedingt wenigstens an einen Menschen wenden muß! Als meine einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Ausweis auf die Straße ging, ging auch ich ... denn meine Tochter lebt mit einem gelben Aus-weis* ...« fügte er wie in Parenthese hinzu, während er den jungen Mann mit einiger Unruhe ansah. »Macht nichts, sehr geehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort zu er-klären, während er sich Mühe gab, ruhig zu erscheinen, als die beiden Burschen hinter dem Ladentisch vor Lachen pru-steten und sogar der Wirt lächelte. »Macht nichts, Herr; dieses Tuscheln verwirrt mich nicht, denn alles ist ohnedies schon allen bekannt, und alles Geheime wird offenbar; und ich trage es nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Mag es so sein!
* Der gelbe Ausweis war im zaristischen Rußland das Dokument der Prostituierten (Anmerkung des Übersetzers).
Mag es so sein! ,Ecce homo!' Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, um es stärker und bildhafter aus-zudrücken: nicht können Sie, sondern wagen Sie es, wenn Sie mich zu dieser Stunde betrachten, zu behaupten, ich sei kein Schwein?«
Der junge Mann erwiderte kein Wort.
»Nun ja«, fuhr der Redner fort, nachdem er in aller Ruhe und diesmal sogar mit noch größerer Würde das Kichern, das abermals im Zimmer aufklang, abgewartet hatte, »nun ja, ich bin vielleicht ein Schwein, und sie ist eine Dame! Ich bin das Ebenbild eines Viehs, aber Katerina Iwanowna, meine Ge-mahlin, ist eine gebildete Person, die Tochter eines Stabsoffi-ziers. Mag ich auch ein Schurke sein, mag ich es sein, sie aber ist hohen Herzens und dank ihrer Erziehung voll edler Gefühle. Indessen ... oh, wenn sie nur Mitleid mit mir hätte! Sehr geehrter Herr, sehr geehrter Herr, es ist doch not-wendig, daß jeder Mensch wenigstens einen einzigen Ort habe, wo man mit ihm Mitleid hat! Und Katerina Iwanowna ist zwar eine großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obgleich ich selber einsehe, daß sie, wenn sie mich am Haar zieht, das nur aus dem Mitleid ihres Herzens tut – denn ich wiederhole ohne Verlegenheit, junger Mann, sie zieht mich am Haar«, be-kräftigte er mit verdoppelter Würde, als er wieder lachen hörte –, »aber mein Gott, wenn sie nur ein einziges Mal ... doch nein! Nein! All das ist vergeblich, und es nützt kein Reden! Es nützt kein Reden! ... Denn schon öfter war es so, wie ich mir wünschte, und mehr als einmal hatte man Mitleid mit mir ... aber ... aber so ist nun einmal mein Charakter, und ich bin von Geburt an ein Vieh!«
»Das will ich meinen«, bestätigte gähnend der Wirt.
Marmeladow schlug mit der Faust energisch auf den Tisch.
»So ist nun einmal mein Charakter! Wissen Sie, mein Herr, wissen Sie, daß ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht etwa die Schuhe, Herr, denn das entspräche wenigstens irgend-wie dem Lauf der Welt; nein, ihre Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Auch ihr Kopftuch aus Ziegenwolle; sie besaß es von früher her; es war ein Geschenk und gehörte ihr, nicht mir. Wir leben in einem kalten Loch, und sie hat
sich in diesem Winter erkältet, und manchmal hustet sie sogar schon Blut. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwa-nowna arbeitet vom Morgen bis in die Nacht; sie scheuert und wäscht und hält die Kinder sauber, denn sie ist von Jugend auf an Reinlichkeit gewöhnt, hat aber eine schwache Brust und neigt zur Schwindsucht; ich fühle das. Fühle ich das etwa nicht? Und je mehr ich trinke, desto stärker fühle ich es. Deshalb trinke ich ja, weil ich im Trinken Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!« Und gleichsam in Verzweiflung neigte er den Kopf auf den Tisc h.
»Junger Mann«, fuhr er fort, als er sich wieder aufrich-tete, »in Ihrem Gesicht lese ich Kummer; als Sie eintraten, sah ich diesen Kummer, und darum wandte ich mich gleich an Sie. Denn wenn ich Ihnen die Geschichte meines Lebens berichte, will ich mich nicht vor diesen faulen Kerlen hier, denen ohne-dies alles bekannt ist, an den Pranger stellen, sondern ich suche einen gefühlvollen, gebildeten Menschen. Hören Sie also, daß meine Gemahlin in einem vornehmen adligen In-stitut in einer Gouvernementsstadt erzogen worden ist und bei der Schlußfeier vor dem Gouverneur und vor anderen Persönlichkeiten mit einem Schal getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein Ehrendiplom erhielt. Die Medaille ... Nun, die Medaille haben wir verkauft ... es ist schon lange her ... Hm! ... Aber das Ehrendiplom liegt heute noch in ihrer Truhe, und erst neulich hat sie es der Hauswirtin gezeigt. Und obgleich sie mit der Hauswirtin in ewigem, unaufhör-lichem Streit lebt, so wollte sie doch wenigstens vor irgend jemandem einmal stolz sein und von den glücklichen vergan-genen Tagen sprechen. Und ich verurteile sie nicht; ich verur-teile sie nicht, denn das ist das letzte, was ihr von ihren Erinnerungen geblieben ist, alles andere ist in alle vier Winde verstreut! Ja, ja, sie ist eine heißblütige, stolze, unbeugsame Dame. Sie selber wäscht den Fußboden und ißt nur schwarzes Brot, aber sie duldet nicht, daß man es an Respekt vor ihr fehlen läßt. Darum wollte sie Herrn Lebesjatnikow auch seine Grobheit nicht verzeihen, und als er sie deshalb verprügelte, mußte sie sich, nicht so sehr wegen der Schläge wie vielmehr