Einzelheiten des Alltagslebens wie auch für den Glauben der Menschen, denen er begegnet. Vieles, was er beobachtet, dünkt ihn vulgär, obszön oder barbarisch, doch er vergeudet wenig Zeit mit Entrüstung; sobald er seine Mißbilligung kundtut, wendet er sich sofort wieder dem ungerührten Beobachten zu. Und er berichtet von dem, was er sieht, mit bemerkenswert wenig Herablassung. Seine Art des Berichtens mag nach westlichem Empfinden exzentrisch erscheinen; er erzählt eine Geschichte nicht so, wie wir sie zu hören gewohnt sind. Wir vergessen nur zu gerne, daß unser Sinn für Dramatik einer mündlichen Tradition entstammt - dem Auftritt eines Barden vor einem Publikum, das häufig unruhig oder ungeduldig war, oder auch schläfrig von einem schweren Mahl. Unsere ältesten Erzählungen, die Ilias, der Beowulf, das Rolandslied, waren ausnahmslos für den Vortrag durch Sänger bestimmt, deren hauptsächliche Funktion und vornehmliche Pflicht die Unterhaltung war.
Doch Ibn Fadlan war ein Schriftsteller, und sein oberstes Ziel war nicht die Unterhaltung. Ebenso wenig war es die Glorifizierung eines zuhörenden Gönners oder die Untermauerung von Mythen der Gesellschaft, in der er lebte. Er war im Gegenteil ein Gesandter, der einen Bericht erstattete; dem Tonfall nach ist er ein Steuerprüfer, kein Barde; ein Anthropologe, kein Dramatiker. Häufig vernachlässigt er sogar eher die spannendsten Elemente seiner Erzählung, als sich von ihnen in seinem klaren und ausgewogenen Bericht beeinträchtigen zu lassen.
Zeitweise ist diese Objektivität so irritierend, daß wir übersehen, welch ein außerordentlicher Beobachter er wirklich ist. Hunderte von Jahren nach Ibn Fadlan war es unter Reisenden noch durchaus üblich, hemmungslos spekulative und phantastische Aufzeichnungen von fremden Wunderdingen zu verfassen - sprechende Tiere, gefiederte Menschen, die fliegen konnten, Begegnungen mit Riesentieren und Einhörnern. Noch bis vor zweihundert Jahren füllten ansonsten nüchterne Europäer ihre Reisetagebücher mit Nonsens wie afrikanischen Pavianen, die Krieg gegen Bauern führten, und so weiter. Ibn Fadlan spekuliert niemals. Jedes Wort klingt wahr, und wann immer er vom Hörensagen berichtet, ist er so sorgfältig, dies auch anzugeben. Gleichermaßen sorgfältig weist er darauf hin, wann er Augenzeuge ist; deswegen gebraucht er ein ums andere Mal die Formulierung »Ich sah mit eigenen Augen«. Letztendlich ist es dieser Eindruck absoluter Wahrhaftigkeit, der seine Geschichte so erschreckend macht. Denn seine Begegnung mit den Nebelungeheuern, den »Verzehrern der Toten«, wird mit dem gleichen Augenmerk für Einzelheiten, der gleichen sorgfältigen Skepsis erzählt, die auch die anderen Teile des Manuskriptes kennzeichnen. Der Leser mag sich auf jeden Fall ein eigenes Urteil bilden.
Der Aufbruch aus der Stadt des Friedens
Gelobt sei Gott, der Gnädige und Barmherzige, der Herr der zwei Welten, und Friede und Heil über den Prinzen der Propheten, unsern Herrn und Meister Mohammed, den Gott segne und beglücke mit fortwährendem und unvergänglichem Frieden und Heil bis zum Tag des Gerichts! Dies ist das Buch des Ahmad ibn-Fadlan, ibn-al-Abbas, ibn-Rasid, ibn-Hammad, eines Schützlings des Muhammad ibn-Sulayman, des Gesandten des al-Muqtadir an den König der Saqaliba, in welchem er aufzeichnet, was er im Lande der Türken, der Hazar, der Saqaliba, der Baskir, der Rus und der Nordmänner sah, von der Geschichte ihrer Könige und der Art, wie sie bei vielerlei Anlässen ihres Lebens sich betragen. Der Brief des Yiltawar, König der Saqaliba, erreichte den Gebieter der Gläubigen, al-Muqtadir. Er ersuchte ihn darin, jemanden zu entsenden, welcher ihn in Religion unterweisen und mit den Gesetzen des Islam vertraut machen, welcher eine Moschee für ihn bauen und eine Kanzel für ihn errichten möge, von welcher aus der Auftrag zur Bekehrung seines Volkes in allen Ländereien seines Königreiches ausgeführt werden möge; und ebenso zur Beratung in der Anlage von Befestigungen und Verteidigungswerken. Und er bat den Kalifen, desgleichen zu tun. Der Vermittler in dieser Angelegenheit war Dadir al-Hurami.
Der Gebieter der Gläubigen, al-Muqtadir, war, wie viele wissen, kein starker und gerechter Kalif, sondern den Annehmlichkeiten und schmeichelnden Reden seiner Offiziere zugetan, welche ihn zum Narren hielten und hinter seinem Rücken gewaltig spotteten. Ich gehörte nicht zu seiner Gesellschaft, noch war ich besonders beliebt beim Kalifen aus dem Grunde, welcher folgt. In der Stadt des Friedens lebte ein älterer Kaufmann mit Namen ibn-Quarin, reich an allem, doch bar eines großmütigen Herzens und der Liebe zum Menschen. Er hortete sein Gold und desgleichen sein junges Weib, welches niemals jemand gesehen, doch alle schön hießen über jegliche Vorstellungskraft. Eines bestimmten Tages sandte mich der Kalif aus, ibn-Quarin eine Nachricht zu überbringen, und ich fand mich am Hause des Kaufmanns ein und suchte Einlaß mit meinem Brief und Siegel. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht um die Bedeutung des Briefes, doch ist dies nicht von Gewicht.
Der Kaufmann war nicht zu Hause, da er in Geschäften unterwegs war; ich erklärte dem Diener an der Tür, daß ich seine Rückkehr abwarten müsse, nachdem der Kalif verfügt hatte, ich dürfe die Nachricht zu seinen Händen allein mit den meinen überbringen. Daher ließ mich der Diener an der Tür in das Haus eintreten, was einige Zeit in Anspruch nahm, da die Tür des Hauses vielerlei Bolzen, Schlösser, Riegel und Verschlüsse aufwies, wie es üblich ist in den Unterkünften der Geizigen. Endlich ward ich eingelassen und wartete den ganzen Tag und ward hungrig und durstig, bekam jedoch keinerlei Erfrischung von den Dienern des knausrigen Kaufmannes dargeboten. In der Hitze des Nachmittags, da das ganze Haus still war und die Diener ruhten, fühlte auch ich mich schläfrig. Darauf sah ich vor mir eine weiße Erscheinung, eine junge und wunderschöne Frau, welche ich für das nämliche Weib hielt, das kein Mann je gesehen. Sie sprach nicht, sondern geleitete mich mit Gesten in einen anderen Raum und verriegelte dort die Tür. Ich erfreute mich ihrer auf der Stelle, zu welchem Zwecke sie keiner Ermutigung bedurfte, denn ihr Gatte war alt und ohne Zweifel pflichtvergessen. Dergestalt verstrich der Nachmittag rasch, bis wir Anzeichen der Rückkehr des Hausherren vernahmen. Unverzüglich erhob sich das Weib und verließ mich, ohne in meiner Gegenwart ein Wort geäußert zu haben, und mir verblieb es, eilends meine Gewänder zu ordnen. Nun wäre ich gewißlich ertappt worden, wären da nicht die nämlichen zahllosen Schlösser und Riegel gewesen, welche des Geizigen Zutritt zu seinem eigenen Heim erschwerten. Dennoch fand mich der Kaufmann ibn-Quarin in dem angrenzenden Räume, und er betrachtete mich mit Argwohn und fragte, weshalb ich mich dort befände und nicht im Hofe, wo es sich für einen Boten zu warten geziemte. Ich erwiderte, daß ich dürstete und darbte und Speise und Schatten gesucht hätte. Dies war eine armselige Lüge, und er glaubte sie nicht; er beklagte sich beim Kalifen, welcher, wie ich wußte, insgeheim Vergnügen empfand und sich doch zwang, vor der Öffentlichkeit eine strenge Miene zu wahren. Als daher der Herrscher der Saqaliba um eine Gesandtschaft des Kalifen ersuchte, drängte der nämliche gehässige ibn-Quarin, daß ich entsandt werden möge, und so widerführ es mir. In unserer Gesellschaft befand sich der Gesandte des Königs der Saqaliba, welcher Abdallah ibn-Bastu al-Hazari hieß, ein ermüdender und hochtrabender Mann, welcher übermäßig redete. Ferner waren da Takin al-Turki, Barsal-Saqlabi, beides Führer auf der Reise, und überdies ich. Wir führten Geschenke für den Herrscher, für sein Weib, seine Kinder und seine Befehlshaber mit uns. Des weiteren brachten wir bestimmte Arzneien, welche in die Obhut des Sausan al-Rasi übergeben worden waren. Dies war unsere Gruppe. So brachen wir am Donnerstag, dem elften Safar des Jahres 309 (21. Juni 921) aus der Stadt des Friedens (Bagdad) auf. Wir rasteten einen Tag in Nahrawan, und von dort zogen wir eilends weiter, bis wir al-Daskara erreichten, wo wir drei Tage rasteten. Darauf reisten wir geradewegs und ohne jede Verzögerung weiter, bis wir Hulwan erreichten. Dort hielten wir uns zwei Tage auf. Von dort zogen wir nach Qirmisin, wo wir zwei Tage verweilten. Darauf brachen wir auf und reisten, bis wir Hamadan erreichten, wo wir drei Tage verweilten. Darauf zogen wir weiter nach Sawa, wo wir zwei Tage verweilten. Von dort gelangten wir nach Ray, wo wir elf Tage verweilten, unterdessen wir auf Ahmad ibn-Ali warteten, den Bruder des al-Rasi, da dieser sich in Huwar al-Ray befand. Darauf zogen wir nach Huwar al-Ray und verweilten dort drei Tage.