Wir kamen in das Gebiet des Heeresbefehlshabers, dessen Name Etrek ibn-al-Qatagan lautete. Er schlug türkische Zelte für uns auf und hieß uns darin bleiben. Er selbst hatte einen großen Haushalt, Sklaven und geräumige Unterkünfte, Er trieb Schafe für uns zusammen, auf daß wir sie schlachten möchten, und stellte Pferde zum Reiten zu unserer Verfügung. Die Türken bezeichneten ihn als ihren besten Reiter, und wahrhaftig sah ich eines Tages, als er mit uns dahinjagte und eine Gans über uns hinwegflog, wie er seinen Bogen spannte und dann, derweil er sein Pferd darunter lenkte, auf die Gans schoß und sie herabholte. Ich beschenkte ihn mit einem Gewand aus Merv, einem Paar Stiefel aus rotem Leder, einem Mantel aus Brokat und fünf Mänteln aus Seide. Er nahm dies mit glühenden Lobesworten entgegen. Er legte den Brokatmantel ab, welchen er trug, um die Ehrengewänder überzuziehen, welche ich ihm just gegeben. Darauf sah ich, daß der Qurtag, welchen er darunter trug, ausgefranst und sudelig war, doch ist es Brauch bei ihnen, daß niemand das Gewand, welches er trägt, ablegen soll, bevor es zerfällt. Wahrlich, er zupfte überdies seinen gesamten Bart und selbst seinen Schnurrbart, so daß er aussah wie ein Eunuch. Und doch war er, wie ich beobachtet hatte, ihr bester Reiter. Ich glaubte, daß diese edlen Geschenke uns seine Freundschaft gewinnen würden, doch sollte dies nicht so sein. Er war ein verschlagener Mann.
Eines Tages schickte er nach den Anführern in seiner Nähe; das heißt nach Tarhan, Yanal und Glyz. Tarhan war der einflußreichste unter ihnen; er war verkrüppelt und blind und hatte eine verstümmelte Hand. Dann sagte er zu ihnen: »Dies sind die Boten des Königs der Araber an den Häuptling der Bulgaren, und ich möchte sie nicht Weiterreisen lassen, ohne euch zu Rate zu ziehen.« Darauf sprach Tarhan: »Dies ist eine Angelegenheit, wie wir noch keine gesehen haben. Niemals ist der Gesandte des Sultans durch unsere Lande gereist, seit wir und unsere Ahnen hier leben. Ich habe das Gefühl, daß der Sultan uns eine List zufügt. Diese Männer sendet er in Wirklichkeit zu den Hazar, um sie gegen uns aufzuwiegeln. Am besten hauen wir diese Gesandten entzwei und nehmen alles, was sie besitzen.«
Ein weiteres Ratsmitglied sagte: »Nein, wir sollten eher nehmen, was sie besitzen, und sie nackt zurücklassen, auf daß sie dorthin zurückkehren, woher sie kamen.« Und ein weiterer sagte: »Nein, wir haben Gefangene beim König der Hazar, daher sollten wir diese Männer hinschicken, sie auszulösen.« Sieben Tage lang besprachen sie diese Angelegenheit untereinander, derweil wir uns in einer Lage ähnlich dem Tode befanden, bis sie übereinkamen, den Weg freizugeben und uns weiterziehen zu lassen. Wir schenkten Tarhan zwei Kaftane aus Merv als Ehrengewand und überdies Pfeffer, Hirse und einige Laibe Brot. Und wir reisten weiter, bis wir zum Flusse Bagindi kamen. Dort nahmen wir unsere Lederboote, welche aus Kamelhäuten gefertigt waren, breiteten sie aus und luden die Güter von den türkischen Kamelen ein. Als ein jegliches Boot voll war, setzten sich Gruppen zu fünf, sechs oder vier Männern in sie. Sie nahmen Zweige aus Birkenholz in die Hand und benutzten sie als Ruder und paddelten fortwährend, derweil das Wasser das Boot hinabtrug und herumwirbelte. Schließlich gelangten wir hinüber. Was die Pferde und Kamele betraf, so gelangten diese schwimmend hinüber.
Beim Überqueren eines Flusses ist es unbedingt notwendig, daß zuvorderst eine Gruppe Krieger mit Waffen vor einem jeglichen aus der Karawane hinüberbefördert werden sollte, auf daß eine Vorhut gebildet werden kann, die Angriffe durch Baskiren zu verhindern, derweil die Hauptmacht den Fluß überquert.
Dergestalt überquerten wir den Fluß Bagindi und darauf den Fluß namens Gam auf die nämliche Weise. Darauf den Odil, darauf den Adrn, darauf den Wars, darauf den Ahti, darauf die Wbna. All dies sind breite Russe. Darauf erreichten wir die Peceneg. Diese lagerten an einem stillen See wie einem Ozean. Sie sind ein dunkelbraunes, mächtiges Volk, und die Männer scheren ihre Barte. Im Gegensatz zu den Oguz sind sie arm, denn ich sah Männer unter den Oguz, welche zehntausend Pferde und hunderttausend Schafe besaßen. Doch die Peceneg sind arm, und wir verweilten nur einen Tag bei ihnen. Darauf brachen wir auf und gelangten zu dem Fluß Gayih. Dieser ist der größte, breiteste und reißendste, welchen wir sahen. Wahrlich, ich sah, wie ein Lederboot darin umschlug, und diejenigen in ihm wurden ertränkt. Viele aus unserer Gesellschaft kamen um, und eine Anzahl Kamele und Pferde ward ertränkt. Wir überquerten den Fluß mit Mühe. Darauf zogen wir ein paar Tage weiter und überquerten den Fluß Gaha, darauf den Fluß Azhn, darauf den Bagag, darauf den Smur, darauf den Knal, darauf den Suh und darauf den Fluß Kiglu. Endlich erreichten wir das Land der Baskiren.
Das Yakut-Manuskript enthält eine kurze Schilderung von Ibn Fadlans Aufenthalt unter den Baskiren; viele Gelehrte bezweifeln die Authentizität dieser Passagen. Die eigentlichen Schilderungen sind ungewöhnlich vage und weitschweifig und bestehen hauptsächlich aus Auflistungen der angetroffenen Häuptlinge und Edlen. Ibn Fadlan selbst deutet an, daß die Baskiren nicht der Rede wert seien, eine untypische Aussage von diesem vorbehaltlos neugierigen Reisenden.
Endlich verließen wir das Land der Baskiren und überquerten den Fluß Germsan, den Fluß Urn, den Fluß Urm, dann den Fluß Wtig, den Fluß Nbasnh, darauf den Fluß Gawsin. Die Entfernung zwischen den Flüssen, welche wir erwähnen, beträgt in jedem Falle eine Reise von zwei, drei oder vier Tagen.
Darauf gelangten wir ins Land der Bulgaren, welches an den Gestaden des Flusses Wolga anfängt.
Erste Berührung mit den Nordmännern
Ich sah mit eigenen Augen, wie die Nordmänner (Tatsächlich lautete Ibn Fadlans Bezeichnung für sie »Rus«, was der Name dieses speziellen Stammes der Nordmänner war. Im Text nennt er die Skandinavier manchmal bei ihrem speziellen Stammesnamen, und manchmal erwähnt er sie unter dem Oberbegriff »Waräger«. Unter Historikern ist der Begriff »Waräger« heute den skandinavischen Söldnern in Diensten des byzantinischen Reiches vorbehalten. Um Verwirrung zu vermeiden, werden in dieser Übersetzung stets die Begriffe »Nordmänner« und »Normannen« verwandt.) mit ihren Waren eingetroffen waren und ihr Lager entlang der Wolga aufschlugen. Niemals habe ich ein so riesiges Volk gesehen: Sie sind allesamt so groß wie Palmen und besitzen eine gesunde und rötliche Gesichtsfarbe. Sie tragen weder Wams noch Kaftan, sondern die Männer unter ihnen tragen ein Gewand aus grobem Tuch, welches über die eine Seite geworfen wird, so daß eine Hand frei bleibt. Jeder Nordmann führt mit sich eine Axt, einen Dolch und ein Schwert, und ohne diese Waffen sind sie nie zu sehen. Ihre Schwerter sind breit, mit gewelltem Blatt und von fränkischer Machart. Von den Spitzen der Fingernägel bis zum Halse ist ein jeglicher Mann von ihnen tätowiert mit Abbildungen von Bäumen, Lebewesen und anderen Dingen.
Die Frauen tragen, an ihrer Brust befestigt, einen kleinen Kasten aus Eisen, Kupfer, Silber oder Gold, gemäß dem Besitz und Reichtum ihrer Gatten. An dem Kasten befestigt tragen sie einen Ring und auf diesem einen Dolch, alles an ihrer Brust angebracht. Um ihren Hals tragen sie Gold- und Silberketten. Sie sind die schmutzigste Rasse, die Gott jemals erschuf. Sie wischen sich nach dem Stuhlgang nicht ab oder waschen sich nach einem nächtlichen Erguß nicht, so als ob sie wilde Esel wären.
Sie kommen aus ihrem eigenen Lande, ankern mit ihren Schiffen auf der Wolga, welche ein großer Fluß ist, und errichten an ihrem Ufer große hölzerne Häuser. In jedem solchen Hause leben zehn oder zwanzig, mehr oder weniger. Jeder Mann besitzt eine Ruhestatt, wo er mit den schönen Mädchen sitzt, die er zum Verkauf bei sich führt. Es ist durchaus möglich, daß er sich einer erfreut, derweil ein Freund zusieht. Mitunter sind mehrere von ihnen im nämlichen Augenblick dergestalt beschäftigt, ein jeglicher unter den Augen der anderen.