»Mein Vater war ein Kaufmann wie Ihr«, begann Christoph ungeschickt. Dann konnte er nicht mehr weiterreden.
»Komm mit mir in die Herberge, dann werden wir weitersehen.« Der Herr hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.
Es brach aus Christoph nur so heraus: die falschen Gewichte, die Folter und das Todesurteil, die Hand des Henkers, die auf ihm und seinem Vater geruht hatte. Hier schaute er Herrn Elieser, wie der Herr hieß, besorgt an. Aber der verzog keine Miene. Von dem Stadt- und Landverweis aus Gnade erzählte er, von ihrer Verfolgung und dem Preis, der auf ihren Kopf ausgesetzt war, auch von den drei Zahlen. Er erzählte mit brüchiger Stimme vom Tod seines Vaters und der Aufgabe, die er, Christoph Schimmelfeldt, vom Vater übernommen habe. Die Nacht in der Herberge saß ihm noch im Genick. Zuerst durfte er sich satt essen. Später führte ihn Herr Elieser in eine Kammer zu einem sehr alten Mann mit einem schlohweißen Bart und einem sehr ehrwürdigen Gesicht, das ihn seltsamerweise an Balthas erinnerte, obwohl der doch so fett und dieser Herr eher hager und viel älter war. Der Herr trug eine weite Kleidung aus dunklem Samt. Sie nannten ihn Abraham. Herr Elieser, der ihn aufgenommen hatte, trug jetzt ein weites rotes Unterkleid aus sehr kostbarem Stoff und ein Oberkleid aus blauem Samt, das rot gefüttert war.
Beide trugen mit Gold bestickte Käppchen aus Samt.
Christoph wusste schon, dass es keine Kaufleute unterwegs zu einer Messe waren. Es waren Juden aus Spanien, der zu Verwandten nach Straßburg wollten.
»Wir können nicht weiter. Nicht nur wegen des Hochwassers, sondern weil wir uns erst einen Pass für Straßburg ausstellen lassen müssen. Das braucht seine Zeit«, erklärte Elieser.
Dann stützte sich der alte Abraham auf: »Ich habe deine Geschichte gehört und möchte dir glauben, Christoph. Viel helfen werden wir dir nicht können; wir wissen aber besser als andere, was Verfolgung ist, denn wir wurden selbst verfolgt und sind Vertriebene.«
Elieser fuhr fort: »Du hast Glück gehabt: Heute ist das Purimfest, ein Freudenfest für uns Juden. Und weil wir selbst als Vertriebene wenig Anlass zur Freude haben, sind wir uns einig gewesen, anderen eine Freude zu machen. So haben wir besonders viele Bettler beschenkt und dich getroffen. Wir können dir ein wenig helfen, aber es kann nicht viel sein, auch wir sind hier Fremde.«
»Wir werden dir helfen, dass du sicher über den Rhein kommst«, bestimmte der alte Abraham.
Zunächst war das sehr viel.
Es gab auch zwei Frauen. Christoph lernte sie gegen Abend kennen. Die eine war Esther, die Frau des alten Abraham, eine Dame mir weißen Haaren und einem stillen Gesicht, die andere war ihre Schwiegertochter Hannah, also die Frau des Herrn Elieser. Sie hatte ein bräunliches Gesicht und schwarze Haare. Sie war kleiner und rundlicher.
Als sie am Abend in einer Kammer beim Essen saßen, fasste Christoph Mut: »Ihr gebt mir Rätsel auf.«
Herr Elieser lachte: »Das will ich gerne glauben, dass wir dir Rätsel aufgeben, aber sag.«
»Ihr kommt aus Spanien«, fuhr Christoph fort, »aber Ihr sprecht deutsch, dass man kaum einen Unterschied hört. Ihr wollt zu Verwandten nach Straßburg und habt Wagen dabei wie für eine Messe.«
»Das erste Rätsel ist gleich gelöst. Wir sind Kaufleute auf allen Märkten Europas, da müssen wir auch alle Sprachen kennen. Dazu kommt, dass die Mutter von Esther aus Deutschland, eben aus Straßburg war. Deshalb spricht die ganze Familie Deutsch besonders gut. Wir können auch andere Sprachen, Portugiesisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Arabisch, wenn auch nicht so gut wie Deutsch.«
Der alte Abraham sagte lächelnd: »Lachen und Weinen sind in allen Sprachen gleich.«
Christoph konnte Latein und sein Vater hatte ihm schon eine Menge Französisch beigebracht. Er konnte auch ein paar Brocken Italienisch. Der Vater hatte immer gesagt: Sprachen sind das wichtigste Kapital für Kaufleute. Du wirst sie am besten lernen, wenn ich dich nach und nach in alle Länder Europas schicke. Wie lange war das her!
»Auch das zweite Rätsel«, redete Elieser weiter, »ist gleich gelöst: Wir wollen unsere Verwandten nicht besuchen. Wir kommen als vertriebene Flüchtlinge hierher. Straßburg soll unsere neue Heimat werden, wir wollen dort unseren Handel weiterführen. Dazu brauchen wir einen Schutzbrief des Kaisers, den wir in Basel und Freiburg bezahlt haben. Ich werde wohl auch nach Prag reisen müssen.«
»Warum hat man Euch vertrieben?«
»Uns geht es wie dir. Man hat uns falsch beschuldigt und so mussten wir die Heimat verlassen wie du.«
»Was haben sie Euch denn vorgeworfen?« Christoph ließ seinen Blick über die Menschen gehen, die vor ihm saßen. In welchen Verdacht konnten die gekommen sein?
»Wir sollen Massenmörder sein, Tausende von Menschen sollen wir umgebracht haben!«, begann Elieser. »Und nicht nur wir, sondern alle unsere Glaubensbrüder und Schwestern! Sie beschuldigen im Königreich Aragon die Juden, dass sie die Brunnen vergiftet haben.«
»Die Brunnen vergiftet?«
»Ja, es gibt in Spanien und im ganzen Süden seit dem letzten Jahr eine entsetzliche Krankheit, den schwarzen Tod oder die Pest, wie die Gelehrten sie nennen«, fuhr Elieser fort.
»Ich habe davon gehört«, sagte Christoph beklommen.
»Dann weißt du auch, dass fast jeder, der die Krankheit bekommt, in wenigen Tagen stirbt.«
»Niemand weiß, wie die Krankheit entsteht«, fuhr der alte Abraham fort, »der eine sagt dies, der andere das. Aber das Sterben wird immer gewaltiger und die Menschen meinen, dass es erst aufhört, wenn sie einen Schuldigen bestrafen.«
»Und da haben sie uns Juden dafür verantwortlich gemacht«, setzte Elieser hinzu, »wir hätten die Brunnen vergiftet, um die Christenheit auszurotten. Aber es sterben Juden wie Christen. Ich kenne einige jüdische Familien, die ganz ausgestorben sind.«
»So haben sie viele Juden ermordet, unsere Häuser verbrannt«, sagte Esther leise, »die Ärmeren waren ihnen fast hilflos ausgeliefert. Wir haben Schreckliches gesehen. Aber wir selbst konnten mit viel Geld vom König von Aragon einen Schutzbrief für die ganze Familie lösen, mussten aber das Land, unsere Heimat, verlassen. So sind wir hier. Wir hoffen natürlich auch, dass die Pest nicht hierher kommt.«
Im Raum war langes bedrücktes Schweigen.
Christoph blieb bei den Juden und machte sich nützlich. Er half die Pferde zu versorgen, die Ladung neu zu ordnen und festzubinden. Er half die Kammern sauber zu machen, auszukehren und die Böden zu schrubben. Ein Außenstehender hätte ihn für einen Knecht gehalten.
Er stellte sich vor, wie der Frosch sich wunderte, wo er geblieben war.
Die Sonne zeigte sich wieder, ein lauer Wind strich rheinabwärts. Die Auwälder zeigten ein zartes Grün, die ersten Blüten standen auf den Wiesen und die Vögel begannen zu singen.
Es hieß, der Rhein sei wieder passierbar.
Gegen Abend ertönte ein eigenartiger Singsang von der Straße her. Es war ein Zug von vielleicht dreißig Menschen, die unter Singen einem Kreuz folgten. Mönche in braunen Kutten gingen voraus. Weihrauchfässer wurden geschwungen. Sie betraten den Hof der Herberge und stellten sich um das Kreuz.
Dann richtete sich einer der Mönche auf und lud alle Leute in der Herberge ein zu beten gegen die Pest!
Den Hof füllten immer mehr Menschen, die sich auf die Knie warfen, an den Fenstern der Herberge standen viele, auch auf der Holzgalerie knieten Menschen mit gefalteten Händen.
Die Mönche begannen eine Litanei zu singen, das Volk antwortete. Der Gesang ging hin und her.
Da richtete sich ein Junge aus der knienden Haltung auf, den Blick starr auf die andere Seite des Hofes gerichtet. Auch dort war ein Mann aufgestanden, ein dicklicher, untersetzter Mann in einer auffälligen Kleidung, der sich durch die kniende Menge auf ihn zuarbeitete.