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Dann war Christoph, den die Juden bis zum Rhein beschützen wollten, verschwunden.

Christoph rannte und keuchte – nasse Wiesen, Wasser, ein Wäldchen. Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Gegen das Abendlicht stand hell der Rhein. Zwei Fähren brauchte man, um über seine beiden Arme auf die Straßburger Seite zu kommen. Auf welcher Seite waren sie gerade?

Er hatte Glück, die erste Fähre war auf seiner Seite. Aber er war der Einzige, der jetzt am Abend noch hinüberwollte. So war das Übersetzen teuer, es verschlang fast sein ganzes Geld, der Rest würde gerade für die zweite Fähre reichen. Er würde als Bettler ohne einen Heller in Straßburg ankommen.

Nachdenklich schaute er in das ziehende strudelnde Wasser, über das die Fähre gleichmäßig und fast geräuschlos glitt.

Juden. In Stuttgart gab es Juden. Sie hatten aber keinen guten Ruf. Sie hatten Jesus Christus ans Kreuz geschlagen und hassten die Christen, wie es hieß. Sie konnten kein Handwerk, waren auch keine Bauern, sondern verliehen Geld gegen Zinsen, was Christen nicht durften. Wucherer, sagten viele. Ihr Ziel war es, die Christen zu verderben.

Andererseits hatte er seinen Vater einmal sagen hören: Ich habe nichts gegen Juden. Das sind rechtliche Leute, wenn auch nicht jedermanns Sache. Aber mit ihnen mache ich gerne Geschäfte. Sie bezahlen pünktlich und zuverlässig. Sie sind als Geschäftsleute hart und auf ihren Vorteil bedacht, aber das bin ich auch, jeder christliche Kaufmann ist es und muss es zugeben, wenn er ehrlich ist.

Diese Juden hatten ihm helfen wollen, obwohl er ein Christ war. Gerade weil sie in derselben Lage waren wie er, hatten sie gesagt.

Als er ausgestiegen war, fuhr die Fähre wieder zurück. Christoph sah es ungern, aber der Fährmann hatte seine Hütte auf der anderen Seite des Rheins.

Der Fährmann der zweiten Fähre weigerte sich, so spät am Abend wegen eines einzigen Gastes noch überzusetzen. Christoph bat und beschwor ihn.

»Etwas ausgefressen?«, fragte der Fährmann, ein langer Kerl mit einem schiefen Gesicht, das aussah, als lache er, wenn er sprach. »Bürschlein, ich könnte dir viel erzählen von Leuten, die dringend noch hinübermussten, spät am Abend, ja, mitten in der Nacht. Aber ich mache das nicht.«

Christoph überlegte – die Wahrheit erzählen?

»Du brauchst nichts zu sagen. Weißt du, alle haben eine Geschichte, warum sie gerade heute noch hinübermüssen.«

Ein Schwarm Vögel flog über sie hinweg über den Rhein.

»Du kannst die Leute immer in zwei Gruppen einteilen. Diejenigen, die nichts zu verbergen haben, und diejenigen, die etwas verbergen müssen. Wer nichts verbergen muss, hat es meist auch nicht sehr eilig.«

Christoph nahm allen Mut zusammen. Der Frosch war jetzt vielleicht schon auf der anderen Seite des ersten Rheinarms und redete mit dem Fährmann wie er. »Ich kann es dir erzählen. Ich werde – «

Stieß da drüben nicht ein Boot ab? Ja, ein Mann war eingestiegen. Christoph krallte die Finger ineinander.

»Zweiter Falclass="underline" Du wirst verfolgt. Deshalb schaust du auch immer zum anderen Ufer. Aber wer verfolgt dich? Weiß ich es? – Wer ist der Gute, wer ist der Böse? Ich lehne jede Verantwortung ab: Ich bin kein Richter, sondern ein Fährmann. Im Übrigen kann ich dich beruhigen: Das Boot, das dort drüben gerade ablegt, kommt nicht hierher. Es ist nur ein Fischer, der nach seinen Reusen sehen will. Für heute wünsche ich angenehme Ruhe. Hier ist eine Pferdedecke, die hält warm. Du kannst auch in meine Hütte kommen, wenn du willst.«

Christoph beschloss draußen im Boot zu bleiben. Wenn der Frosch früh am Morgen zu sehen war, konnte er in den Auwäldern verschwinden, bevor der ihn hatte.

Und wenn der Frosch am Abend doch irgendwie über den Fluss gekommen war und ihn am Landeplatz erwartete?

STRASSBURG

Am selben Vormittag ging er vorbei an den blutigen Tierhäuten, die vor dem Schlachthaus ausgebreitet waren, über die Schindbrücke hinüber in die Innenstadt von Straßburg.

Den Frosch hatte er nicht mehr gesehen.

Der Vater hatte ihm von der Stadt erzählt, wie sie da mächtig an der Ill lag, die von den Straßburgern auch Breusch genannt wurde, wie die Dächer vom Bau des Münsters überragt wurden, wie sie schon seit über hundertfünfzig Jahren an dem gewaltigen Bau arbeiteten, der noch lange nicht beendet war.

Zunächst ließ er sich von der Menge treiben. Aber er hatte Hunger, und das Stück Brot, das ihm die mitleidige Bauersfrau am Morgen gegeben hatte, würde nicht weit reichen. Er würde betteln müssen. Er hatte noch nie richtig gebettelt.

Zwischen der Ill und dem Münster kam er an stattlichen Häusern vorbei. Hier wohnen vielleicht meine Feinde! Die Menschen, die meinen Vater getötet haben und die auch mich töten wollen. Es war aber nichts Auffälliges zu sehen.

Verstohlen hielt er Ausschau nach den Juden, die ihm hatten helfen wollen. Und er schaute in dem Gewimmel nach den Gauklern Philo, der dicken Regine und dem breiten Balthas mit seinem großen Bart, aber er sah niemand, den er kannte.

Das Münster wuchs vor ihm auf wie ein Gebirge. Er sah das riesige Auge der Rosette, von der ihm der Vater erzählt hatte. Was war die Stiftskirche in Stuttgart neben diesem halb fertigen, rötlichen Riesenfelsen, der seinen gewaltigen Schatten über Häuser und Gassen legte! Er sah die beiden Turmstümpfe, die viel höher waren als die Türme der Stiftskirche, die doch bereits ihre Spitze hatten. Schwindel erregende Gerüste kletterten an ihnen hoch. Er konnte aber nicht erkennen, dass gearbeitet wurde, als er durch eines der Portale hineinging.

Lange stand er stumm im farbigen Dämmerlicht der Glasfenster. Es war, als hätten in dem gewaltigen Raum Engel die schwarzen Mauern in glühend buntes Licht verwandelt, als könne man durch die Wände hindurch in eine andere Welt sehen.

Auf der Südseite des Münsters bei den Gerichtsschranken fielen ihm links und rechts im Portal zwei große Steinfiguren auf. Es waren zwei Frauengestalten, von denen sich die eine hoch aufreckte und ein hageres, hochmütiges Gesicht hatte. Sie hielt ein Kreuz in der Hand, an dem eine Fahne befestigt war, und schaute herausfordernd wartend, fast schadenfroh zu der anderen hinüber.

Die andere war zur Seite geneigt wie abgeknickt und hielt einen zerbrochenen Speer in der Hand, der die Biegungen ihres Körpers nachzeichnete. Aus der anderen Hand schienen ihr zwei Steintafeln zu gleiten. Der Steinmetz hatte den Körper unter dem Gewand so dargestellt, dass es aussah, als sei sie jeder Kälte und allen Blicken schutzlos ausgeliefert. Es war ein schlankes, biegsames Mädchen mit sehr traurigem Gesicht, das sein Unglück, was es auch immer war, offenbar mit großer Anmut trug.

Ihr war ein Tuch um die Augen gebunden, als würde sie zur Hinrichtung geführt, aber die Augäpfel zeichneten sich unter dem Tuch so natürlich ab, dass man glauben konnte, sie schaue einen an.

Endloses gellendes Geschrei: Die Stufen der Kirche waren belagert von Bettlern. Da gab es Krüppel aller Art, ohne Arme, ohne Beine, schief gewachsene Männer oder Frauen, deren Körper grotesk verdreht waren. Ein Mann hatte einen so unförmigen Kopf, dass man immer wieder hinschauen musste. Zwei oder drei trugen die Brandmale verurteilter Verbrecher im Gesicht. Allerlei ekelhafte Geschwüre gab es, die offen zur Schau gestellt wurden. Christoph begriff, dass diese Missbildungen die einzige Möglichkeit für diese Menschen waren, zu überleben. Sein Vater hätte als Kaufmann gesagt, dass diese Scheußlichkeiten das Kapital der Menschen waren, das sie einsetzten, um Gewinn zu erzielen, nämlich Mitleid zu wecken.

Er blickte an sich hinunter, um sein Kapital zu ermitteln. Aber da gab es wenig, das man einsetzen konnte. Er war sehr dünn und er war sehr bleich, das wusste er. Aber das waren viele hier auf der Kirchentreppe. Dass er der Einzige war, der von Mördern bedroht wurde, und dass man seinen Vater zu Tode gehetzt hatte, sah man ihm nicht an.