Er sah einen mit einem entsetzlich krummen Bein, der nur noch ein Auge hatte. Immer wenn er einen reichen Mann oder eine reiche Frau im Blick hatte und ihnen etwas vorjammerte, liefen ihm die Tränen herab, und er erhielt sehr viel Geld in sehr kurzer Zeit.
Das ist sein Kapital!, dachte Christoph. Der eine kann seiltanzen oder Feuer schlucken, der andere kann weinen, wann er will. Was kann ich? –
Und wie sie schrien: einer erbärmlicher als der andere. Ein Wettkampf des Schreiens und Heulens um Mitleid und Barmherzigkeit! Er hatte einmal zugesehen, wie Vögel ihre Jungen fütterten. Das Junge, das am lautesten schrie, bekam am meisten zu fressen.
Da war wieder dieses erstickende Gefühl der Hilflosigkeit.
Hölzern stellte er sich hin, fremd war seine Stimme, als er die Erste anrief, die vorbeiging. Es war eine Frau mit einem kostbaren Pelz um die Schultern. Wie sie schrien um ihn herum! Wie sie die Arme reckten! Die Dame verzögerte beim Eintritt in das Münster einen winzigen Augenblick ihren Schritt, griff an ihren Gürtel, wobei sie das Gesicht verächtlich verzog – wer würde ihre Münze bekommen? –, und warf einige Münzen unter die schreienden, heulenden, mit Armen und Krücken fuchtelnden Bettler. Dann blieb sie kurz stehen und sah hochmütig zu, wie sich vier, fünf Bettler um ihre Gabe schlugen.
Christoph machte nicht mit bei der Prügelei. Er wäre der Stärkere gewesen. Aber er konnte es nicht.
Kaum war der Zank hässlich und grob zu Ende, da fuhren die Gesichter zu ihm herum: »Was machst du auf diesem Platz? Der gehört dem Stelzenklaus.«
»Hau ab!«
»An den besten Platz, als wenn es nichts ist.«
Christoph war zu Tode erschrocken. Er hatte nicht gedacht, dass die Plätze im Besitz bestimmter Bettler waren.
Er wusste, dass er sich jetzt hätte behaupten müssen: seine Ellbogen einsetzen! Mit roher Gewalt hätte er sich einen Platz erkämpfen können. Er wäre stärker gewesen als die meisten Krüppel hier.
Aber er konnte es nicht. Er fühlte sich wie damals, als ihm der Henker die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
»Du bist fremd hier. Versuch es doch erst mal an der Schindbrücke auf der Außenseite, da lassen sie dich eher hin«, eine mitleidige Bettlerin war ihm nachgegangen, »hier benehmen sich manche wie Tiere. Und – lege dich nicht mit dem Stelzenklaus an.«
Hinter sich hörte er bereits wieder das Jammern und Schreien um den nächsten Reichen, der in die Kirche ging.
»Was jetzt?«, sagte hinter ihm eine unangenehme Stimme und er fühlte eine Hand auf seiner Schulter.
Christoph fuhr herum.
»Na, na, wer wird denn gleich so erschrecken. Was haben wir denn ausgefressen?«
»Nichts«, stotterte Christoph, »was willst du?«
Es war der einäugige Bettler mit dem krummen Bein. Eine üble Kappe hatte er auf und vor das böse Auge gezogen.
Sie blieben stehen.
»Du interessierst mich.«
»Weshalb?«
»Du bist ein komischer Vogel. Du hast noch nie gebettelt.«
»Woher willst du denn das wissen?«
»Man muss dich nur anschauen: Du stellst dich an den besten Platz, als wärst du der Bettelkönig, und wenn sie dich beschimpfen, wehrst du dich nicht.«
»Was geht es dich an?«
»So ungeschickt hat sich noch kein Anfänger benommen. Scher dich dahin, wo du hingehörst.«
Er hat ja Recht, dachte Christoph.
»Was willst du von mir?«
»Du bettelst – und weißt nicht, wie. Du willst ein Straßburger Bettler sein – und deine Sprache ist nicht von hier. Du hast Hunger, das sieht man dir an – und du trägst Schuhe, von denen du viele Wochen leben könntest, wenn du sie zu Geld machen würdest.«
Christoph war bestürzt. An die Schuhe hatte er nicht mehr gedacht. Sie waren so selbstverständlich –
Der Einäugige flüsterte plötzlich: »Ich weiß, dass dein Leben in Gefahr ist.«
Christoph zuckte zusammen.
»Du kannst mir nichts vormachen.«
Christophs Gedanken überschlugen sich. Was wusste der? War er einer von denen? – Wollte der ihn aushorchen?
»Wart, ich werde die Karten aufdecken.« Er zog den widerstrebenden Christoph in einen kleinen Winkel unten am Fluss.
»So, dann fangen wir erst damit an.«
Sein krummes Bein war plötzlich gerade, der ganze Kerl war größer. Er bückte sich und nahm Wasser aus einer Pfütze, machte einen Lappen nass, den er aus der Tasche zog, und rieb damit heftig das geschlossene Auge. Da war es plötzlich offen. Er zog die Mütze herunter, und da war es Philo, der ihn mit vertrautem Gesicht angrinste und mit wohl bekannter Stimme sprach.
Christoph war es, als ginge plötzlich die Sonne auf.
»Gut, was? Verbesserung der Geschäftsbedingungen. Man muss sich etwas einfallen lassen im Geschäftsleben, das weißt du doch besser als andere.« Er schlug ein Rad und klatschte in die Hände.
»Ich könnte dir viele Lahme in Straßburg zeigen, die gehen, und viele Blinde, die sehen können. Wie heißt es in der Bibel? Da werden Lahme gehen und Blinde sehen.« Da hatte er seine Bälle in der Hand.
Christoph hätte am liebsten einen Sprung in die Luft gemacht.
»Philo – «
»Du kannst es ruhig zugeben. Dafür lade ich dich zum Essen ein. Dann verkaufen wir deine Schuhe, sie sind zu auffällig.«
Sie betraten eine Garküche und Philo zog eine ganze Hand voll Münzen heraus: »Alles heute. Du siehst, Betteln ist ein einträgliches Geschäft, wenn man es kann. Du kannst es nicht oder du müsstest viel lernen.«
Ich kann auch nicht seiltanzen, Feuer schlucken, jonglieren, den Leuten Münzen aus der Nase ziehen, dachte Christoph.
Die Suppe in einer tiefen Holzschale war heiß, fett und dampfte, große Fleischbrocken schwammen darin. Dazu gab es ein riesiges Stück Brot und einen Holzbecher mit Wasser.
Christoph aß heißhungrig und Philo bestellte ihm gleich eine zweite Schale: »Lieber einen vollen Bauch als einen leeren Magen! Ich soll dich von Regine und Balthas grüßen. Es ist fraglich, ob sie dieses Jahr nach Straßburg kommen.«
»Und weshalb bist du –?«
»Ach, weil ich hier bin.«
Christoph erzählte alles, was er seit der Trennung erlebt hatte, auch die Flucht weg von den Juden.
»Das waren sehr nette Leute. Schade, dass ich da weggehen musste.«
»Die Juden haben es hier auch schwer. Und es wird noch schlimmer.«
Christoph war ein zunehmender Gestank aufgefallen, der ihm bekannt vorkam. »Es riecht wie in Stuttgart am Nesenbach.«
»Das sind die Gerber an der Ill. Wir sind ganz in der Nähe der Ill. Hier gibt es ein ganzes Viertel von Gerbern.«
Der Gestank wurde immer unerträglicher, je näher sie den Gerberhäusern kamen.
»Sie hängen die Tierhäute an ihren Häusern entlang der Ill auf und auch über den Straßen. Niemand will hier gerne wohnen.«
»Das kann ich mir denken.«
»Aber auch die Ill stinkt, weil sie allen Dreck und Unrat hineinwerfen. Jeder schimpft, man müsse die Ill sauber halten, aber keiner hält sich daran.«
»Das ist in Stuttgart dasselbe.«
»Das Schlimmste sind die vielen Ratten. Am widerlichsten sind die schwarzen Ratten in den Häusern.«
Sie waren jetzt in ein ganzes Gewirr von Gässchen getreten. Hier gab es nicht so viele Menschen wie in der Mitte der Stadt.
»Wenn es geregnet hat, kommst du hier kaum durch. Es ist ekelhaft. Die reichen Ratsherren kommen nie hierher, um die Zustände zu verbessern.«
Christoph schaute an den aus Holz gebauten Häusern hinauf. Es gab viele jämmerliche Hütten. Die meisten Häuser waren hier mit Stroh gedeckt, obwohl er rund um das Münster fast nur Ziegeldächer gesehen hatte. Jedes Haus hatte im Dach Gauben oder sonstige Öffnungen, in denen überall tropfende Tierhäute hingen. Die größeren Häuser hatten breite Balkone in den Giebeln, auch hier hingen überall die Tierhäute herab. Oft wurde es dunkel in der Gasse, in der sie gingen, weil Stangen von Haus zu Haus über die Gasse gelegt waren, an denen ebenfalls Tierhäute hingen, aus denen eine stinkende Brühe rann.