Es gab hier viele kleine Holzbrücken über die verzweigten Arme der Ill, von denen aus sie die Gerber und ihre Gesellen bis zu den Hüften in schmutzig gelbem Wasser stehen sahen, das sich langsam durch Abfälle schob. An Pfählen dümpelten kleine Boote.
»Im Sommer, wenn es heiß ist, kannst du es hier nicht aushalten.«
Ein stampfendes Geräusch kam vom anderen Ufer.
»Das sind die Mühlen, ein ganzes Viertel wie das der Gerber. Dort stinkt es nicht mehr so entsetzlich, dafür hält man den Lärm kaum aus. Dort drüben in der Richtung der Türme siehst du Fischernetze und Pfähle mit Reusen. Die Fischer wohnen weit flussabwärts am Auslauf der Ill aus der Stadt. Wir müssen zurück, denn wir wollen ja deine Schuhe verkaufen.«
Wie groß diese Stadt war! Christoph konnte nur staunen. Aber sein Vater hatte ihm einmal gesagt, Straßburg sei gar nichts gegen Paris, Mailand oder London, selbst Augsburg und Nürnberg seien größer.
»So, hier sind wir jetzt richtig.«
Am Rande der Gerbereien gab es sehr viele Schuhmacher. Christoph sah ihre Schilder auf die Gasse heraushängen oder an Ketten von langen Stangen schwanken.
Sie blieben vor den Läden stehen, die an Ketten vor die Fenster heruntergeklappt waren.
Die Schuhe konnten sie dann leicht verkaufen. Sie mussten nicht einmal in eine der Werkstätten hinein.
Philo hielt nur die Schuhe in der Hand hoch: »Wer will sehr gute Schuhe kaufen?«
Da kamen auch schon die Gebote. Christoph musste lachen: Von so einem Verkauf konnte ein Kaufmann nur träumen – die Leute schlugen sich beinahe um die Schuhe. Jeder bot noch höher.
»Sie wissen nicht einmal, ob sie ihnen passen.« Er schüttelte den Kopf.
»Die Angst vor der Pest. Es ist, als wollten sie das Leben selbst kaufen.«
Christoph klimperte mit dem Geld in seinem Säckchen, als sie zurückgingen.
»Ich glaube, das ist mehr, als sie gekostet haben.«
»Nun, sie sind beste Arbeit und feinstes Leder. Ich habe noch nie solche Schuhe in der Hand gehabt. Ein schlechtes Gewissen müssen wir nicht haben. Sie werden uns ein paar Wochen prächtig schmecken.«
Das Barfußlaufen war für Christoph sehr ungewohnt. Er erinnerte sich an die kühlen Steinfliesen in ihrem Hause, wenn es Sommer war, oder an die warmen Holzdielen im Winter. Aber er war noch nie auf der Straße barfuß gelaufen, das gehörte sich nicht.
Aber er wusste, dass die meisten Menschen im Sommer barfuß gingen.
»Heute ist es nicht kalt. Warte, bis es Frost gibt und Schnee und Eis, das zwickt dann ganz schön. Und pass auf, dass du in nichts Scharfes oder Spitziges trittst. Wenn sich die Wunde entzündet, kann das sehr unangenehm werden. Du wärst nicht der Erste, dem sie einen Fuß oder ein Bein abschneiden müssen. Für einen Bettler übrigens gar keine schlechten Aussichten.«
»Ich danke.«
»Jetzt bist du ein richtiger Bettler. Einen Bettler in Schuhen, das gibt es einfach nicht! Bald hast du Hornhäute an den Füßen, dann ist alles nicht mehr so schlimm. Ich habe noch nie Schuhe angehabt.«
Christoph sah an Philo auf, dem langen, dürren Kerl, der neben ihm ging und der noch nie Schuhe an den Füßen gehabt hatte.
»Im Winter helfen auch Lappen.«
»Wer bist du eigentlich? Ich weiß gar nichts über dich. Bist du aus Straßburg?«
»Das ist vollkommen unwichtig. Da gibt es nichts zu erzählen.« Er warf einen Ball hoch und fing ihn auf.
»Und Philo – was ist denn das für ein Name? So heißt doch niemand.«
»Doch, ich.«
»Du müsstest Filou heißen. Das ist französisch und heißt Spitzbube. Meine Mutter hat manchmal so zu mir gesagt. Oder noch besser Philosoph.« Philo lächelte.
Wieder drückten sie sich durch die Menschen.
»Wichtiger ist es jetzt, dass wir irgendwo ein stilles Plätzchen finden, wo wir in aller Ruhe über das reden können, was jetzt zu tun ist. Pass übrigens gut auf das Beutelchen auf, das da an deinem Gürtel hängt. Es klimpert so verlockend – nicht dass es dir jemand abschneidet.«
Vor ihnen erhob sich eine große Kirche mit einem ungeschlachten Stumpf als Turm.
»Die Kirche des heiligen Thomas. Da gehen wir jetzt hinein.«
Das Dunkel der Kirche umfing sie wie ein Mantel.
Philo pfiff leise durch die Zähne: »Wenn Balthas kommt, dann wird es erst schön. Dann bauen wir das Seil auf. Du wirst schauen, wie gut wir dich brauchen können.«
Christoph sagte nichts.
»Vielleicht kommt er gar nicht hierher und wir gehen nach Schlettstadt, Colmar oder Mühlhausen. Das Elsass ist reich. Wir können dann auch weitergehen nach Freiburg, Basel, Konstanz, oder Zürich oder rheinabwärts nach Speyer, Worms, Mainz – wir Gaukler sind beweglich. Und in den anderen Städten bist du sicher.«
»Du willst bloß, dass ich aufgebe.«
Philo fasste ihn am Arm: »Auch Balthas und Regine sagen es. Es ist unvernünftig weiterzumachen. Es ist nicht nur gefährlich, es ist tödlich.«
Philo schien Christoph wie verwandelt.
Tödlich! Er musste es sich ja selbst sagen, aber dann sah er den Vater vor sich, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht und diesem eigenartig steifen Gang über das Gebirge geschritten war.
»Sei ehrlich zu dir selbst.«
»Ich kann nicht anders, ich muss.« Aufgeben, das hieß, das kleine Hämmlein Hoffnung, das immer noch in ihm flackerte, auslöschen. Und nach einigem Zögern: »Dann musst du mich eben allein lassen und zu Regine und Balthas zurückgehen.«
Philo schwieg lange. »Hör zu, ein Mann hatte ein Pferd gekauft. Aber es war ein lahmes Pferd. Es ging nicht recht vorwärts mit diesem Pferd. Ich will es schon hinkriegen, das Pferd, es soll so wollen, wie ich will, dachte der Mann. Aber wenn er sich auf das Pferd setzte, so stolperte es nur so dahin. Noch schlimmer war es, wenn er das Pferd vor einen Wagen spannte – das Pferd machte ein paar Stolperschritte, dann blieb es stehen, die Leute lachten. Das werden wir bald haben, dachte der Mann und hob dem Pferd den Huf und packte das kranke Bein und wollte es gewaltsam verbiegen und gerade machen, damit das Pferd nicht mehr lahmte. Aber das Pferd holte aus und schlug dem Mann an den Kopf, dass er tot war.«
»Das kann mir nicht passieren. Was hat deine Geschichte mit mir zu tun?«
Philo schwieg.
»Du hast schon bessere Geschichten erzählt. Pass auf, ich erzähle dir auch eine – die hat mir mein Vater erzählt.«
Philo schaute auf den Boden.
»Einem Seidenhändler brachte ein Jude einen Sack mit Gold, den er auf einer Reise in den Osten vermehren sollte. Dort verlor der Kaufmann einen großen Teil seines eigenen Geldes durch einen Diebstahl. Er hatte aber noch Hoffnung, den Schaden durch hohe Gewinne wieder wettzumachen. Doch wenig später fiel er Räubern in die Hände, den Sack des Juden hatte er vorher noch verstecken können. Die Räuber, in ihrer Enttäuschung über die geringe Beute, wollten ihn auf sieben Jahre als Sklaven verkaufen. Da zeigte der Kaufmann, der ein gutes Leben gewohnt war, den Räubern das Gold des Juden und wurde freigelassen. Als er nun mit leeren Händen heimkam, verklagte ihn der Jude und bekam Recht. Der Kaufherr musste sein Hab und Gut verkaufen und wurde ein armer Mann, da fielen die Leute über den Juden her und beschimpften ihn. Aber mein Vater nicht: Der Jude hat Recht, sagte er: Man darf sein Kapital nie aufgeben! Ein Kaufmann ohne Hoffnung ist kein Kaufmann.«
»Ja, wenn er noch Kapital in den Händen hat!«, Philo schrie es fast.
»Mein Vater ist halb lahm über den Schwarzwald gegangen. Kannst du mir sagen, was das Kapital meines gefolterten Vaters war, der vor Schmerzen kaum mehr Luft bekam?«
Er ist ja auch tot, dachte Philo. Aber er sagte es nicht, sondern drückte Christoph die Hand und nickte.