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Ein Mönch in schwarzweißer Kutte trat durch die Menge und stellte sich auf die Treppe zwischen die Gerichtsschranken am Münster mitten unter die Bettler. Seine Stimme reichte bis zum letzten Winkel des Platzes; von allen Seiten liefen Menschen herbei.

Christoph begriff zuerst nicht recht, worum es ging. Da war von der Kirche die Rede, dann vom Münster, das so jämmerlich dastehe, ohne die beiden Türme, welche der Baumeister vorgesehen habe. Nur Stümpfe seien es geworden. Die Kirche aber führe die Menschen zum ewigen Leben, Christus sei der Schutz und der Erlöser der Menschheit.

Das verstand Christoph und er betete insgeheim um Hilfe.

Während er sich bekreuzigte, änderte sich der Tonfall des Predigers: »Liebe Brüder und Schwestern«, rief er, »ist es nicht eine Schande, dass wir die Kirche nicht fertig bauen, sondern in unseren Sünden verharren? Ist es nicht eine besonders große Sünde, dass wir unter uns die Juden dulden, die unsern Herrn und Erlöser Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben?« Seine Stimme wurde immer lauter und hallte von den Häusern ringsum wider: »Ist es nicht eine Sünde, dass wir mit den Mördern des Heilands zusammenleben, als wären sie Menschen wie wir, teilhaftig der Erlösung? – Ist es nicht eine Sünde, dass wir Geschäfte mit ihnen machen, als wären sie unseresgleichen?«

Der Mönch hob die Hand: »Ihr wisst alle, dass uns schreckliche Plagen drohen. Die Pest steht schon wie eine riesenhafte Wetterwolke über uns. Seht hier diese Figuren aus Stein. O möge doch ihr Anblick euere verhärteten Herzen zum Schmelzen bringen. Seht hier, wie der Meister unsere Mutterkirche aus Stein gebildet hat, triumphierend, die Fahne Christi, die Fahne des Sieges in der Hand. Und hier, wie jämmerlich und erbärmlich steht sie da, die Verliererin, die jüdische Synagoge mit ihrem zerbrochenen Speer! Seht, wie er ihr die Augen verbunden hat, um damit zu zeigen, wie verblendet die Juden sind!«

Er breitete die Arme aus.

»Ich sage euch, wenn die Steine dieser unvollendeten Kirche weinen könnten, dann würden sie weinen über euch, weinen über euch, wie einst Jeremias geweint hat über den Fall Jerusalems, dass ihr euch nicht trennt von denen, die euch verderben, nicht trennen wollt von der Pest, die schon hoch über euch steht!

Ich sage euch ein Gleichnis: Wenn der Sämann über den Acker geht und sieht, wie darauf das Unkraut wächst – was wird der Sämann tun, der gute Sämann?«

Unter den Zuhörern, Bettlern, aber besonders vielen Handwerkern, entstand Bewegung, Rufe wurden laut: »Ausreißen das Unkraut, herausziehen mit den Wurzeln das Unkraut! Mit Stumpf und Stiel!«

Christoph stand stumm, eine Hand hielt er vor den Mund.

Sie schliefen zuerst unter den Brücken. Eingehüllt in dicke Pferdedecken war es trocken und warm. Ohnehin waren die Nächte in der ganzen ersten Zeit warm und tagsüber schien die Sonne jetzt Ende April von einem so strahlend blauen Himmel, als gebe es keinen drohenden Tod über der Stadt.

Philo ging zu den Bettlern, um herumzuhorchen: »Die Bettler wissen mehr, als man denkt.«

Aber viel brachte er nicht heraus. »Vielleicht ist das wichtig: Es tobt ein stiller Machtkampf zwischen den Handwerkern, mit ihnen hat sich der Bischof verbündet, und den Kaufleuten, die es mit dem Kaiser halten. Es gibt mehr Kaufleute im Rat als Zunftmitglieder, sie sind auch Richter – aber was nützt uns das? Bei den Ratsherren müssen die Verbrecher sein. Aber wer sieht’s ihnen an?«

Eine große Unruhe war über die Bettler in Straßburg gekommen. Geld sollte es geben, viel Geld, mehr Geld als alle zusammen jemals gesehen hätten, so hieß es. Man müsse einen Jungen suchen, einen Verbrecher mit schwarzem, buschigem Haar und blauen Augen. Man dürfe ihn umbringen, er sei vogelfrei – dafür gebe es Geld. Viel mehr Geld gebe es, wenn man ihn anzeige, man solle es dem Stelzenklaus sagen, wo man den Verbrecher finden könne.

Das Blutgeld, das man bekomme, sei so hoch, dass es das ganze Leben für Schnaps reiche.

Wer der Auftraggeber des Stelzenklaus sei, wollte Philo wissen.

Aber das wisse nur der Stelzenklaus.

Der Stelzenklaus war der ungekrönte König der Bettler in Straßburg, ein hünenhafter, überaus dicker Mann, der sich angeblich nur mit Krücken fortbewegen konnte. Philo wusste, dass der Stelzenklaus so gesund war wie sein eigenes zugeklebtes Auge. Er war sehr reich, aber gleichzeitig einer der rücksichtslosesten Bettler von ganz Straßburg. Es hieß, er sei vor Jahren ein Raubritter gewesen, dem sie die Burg verbrannt hätten. Andere sagten, er sei in seiner Jugend sehr verwöhnt gewesen, aber sein Vater sei wegen einer Betrügerei aus irgendeiner Stadt in Oberschwaben gewiesen worden, deshalb sei er zum Bettler geworden.

Philo kannte ihn: »Mit dem können wir nicht reden – er ist viel zu gefährlich, ein durchtriebener, bösartiger Kerl, der Angst um sich herum verbreitet. Er wird das Blutgeld alleine einstreichen und dem, der dich anzeigt, nur ein paar Heller geben.«

Es hieß, der Stelzenklaus habe schon Bettler mit seinen Krücken totgeschlagen, wenn sie sich zum Beispiel nicht an den Ort gestellt hätten, den er ihnen zugewiesen habe. Dem Stelzenklaus sei nie etwas geschehen, weil ihn keiner der Bettler in Straßburg verraten habe.

Christoph hatte ihm einmal den Platz weggenommen. Aber davon wusste der Stelzenklaus nichts.

Ein nasser Wind kam auf, es begann zu regnen. Ihr neues Versteck war ein leer stehendes Haus.

In der Nähe hatte Philo Christoph ein Gewölbe am Ufer der Ill gezeigt, das er schon seit Jahren als Versteck genutzt hatte. Er wusste, dass vor einem halben Jahrhundert hier die Stadtmauer gewesen war mit der Ill als Grenze. Man hatte die alten Mauern und Türme abgerissen und weit jenseits der Ill wieder aufgebaut; so war die ganze Ill entlang von den Mühlen bis zu dem Viertel der Fischer hinab ein neues Stadtviertel entstanden. Das Gewölbe musste ein Rest der alten Befestigungen sein. Es war weit in den Hang hineingetrieben und hatte rückwärtig einen Abzug, den Philo noch nicht gefunden hatte, er spürte aber den Luftzug. So konnte er sogar Feuer in der Höhle machen, ohne dass es von außen zu sehen war. Vor dem Eingang stand ein breiter Strauch mit winzigen weißlichen Blüten.

Das Haus, das sie bezogen, war eigentlich nur noch eine Fachwerk- und Bretterhütte, die sich mit dem Giebel bedenklich auf die Seite eines Arms der Ill neigte, der mit schwarzgelbem Wasser entlang einem schmalen Weglein dem Sog des nächsten Einlaufs am Rechen einer Mühle folgte. Das Dach war eingesunken, das Stroh waren faulige Fetzen. Am krummen Giebel hing eine hölzerne Brettergalerie Schwindel erregend über dem Wasser. Das Haus war der Rest einer Gruppe von Gebäuden, die offenbar alle ein Hochwasser der Ill weggerissen hatte, man sah noch Mauerreste und Balken.

»Uns sollte es noch aushalten. Letztes Jahr war freilich noch mehr da«, sagte Philo.

Christoph schaute trübselig auf die herabgebrochene Treppe, auf die es aus dem Dach tropfte: »Alles verrottet.«

»Nur du wirst immer wertvoller: Der Preis auf deinen Kopf ist gestiegen. Es sind jetzt sechs Gulden. Respekt.«

Ein Müller fand im Morgengrauen, am Rechen seiner Mühle, einen angetriebenen Körper, den man zwischen Treibholz und Unrat kaum sehen konnte. Der Mann war tot, nach der Kleidung zu schließen ein Bettler. Die linke Hand umklammerte noch eine leere hölzerne Schnapsflasche ohne Stöpsel.

Philo stand in der Traube von Menschen am Einlauf des Mühlkanals. Er sah das weiße Gesicht des Mannes und er sah die schwarze Einstichwunde im Rücken, über den sich das Hemd verschoben hatte.

»Sie haben heute Morgen einen Bettler aus der Ill gefischt«, sagte er zu Christoph, »er war schon steif. Ich habe ihn mir angesehen.«

Christoph wehrte sich gegen eine aufsteigende Übelkeit: »Und?«

»Ich kannte ihn seit Jahren. Er hat Schnaps gesoffen wie ein Loch. Ich glaube nicht, dass er viel gegessen hat. Er hat alles versoffen.«

»Also ist er besoffen in die Ill gestolpert. Er wird es kaum gemerkt haben.« Christoph bekreuzigte sich.