Philo schaute Christoph an: »Du fragst gar nicht, wieso ich ihn gesehen habe.«
»Wer fragt schon, wo du dich überall herumtreibst.«
»Solltest du aber. Der Bettler muss an unserem Arm der Ill ins Wasser gekommen sein, denn er lag am Rechen unserer Mühle angeschwemmt, ganz nah.«
»Gekommen sein?«
»Er hatte eine Stichwunde im Rücken. Also ist er ermordet und in unseren Mühlkanal geworfen worden.«
»Und wo ist er ermordet worden?«
»Nicht weit von der Fundstelle, denn wer schleppt schon einen Toten herum? Oberhalb des Rechens, das heißt dicht bei unserem Bretterpalast.«
Der Mord war das Gespräch des Tages unter den Bettlern. Am Nachmittag kamen Stadtsoldaten und scheuchten Schwärme von Ratten auf, als sie mit ihren Spießen nachlässig in der Uferböschung der Ill stocherten. Die Bettler standen dabei und gaben Ratschläge, die niemand hören wollte. Die beiden Jungen sahen und hörten es von der morschen Brettergalerie aus.
Man konnte sie betreten, wenn man vorsichtig war und über dem Balkengerüst blieb, über das die Bretter genagelt waren. Aber so ganz sicher war das auch nicht.
Am Abend rückte eine Abteilung Soldaten die Ill entlang und trieb alle Bettler, die keinen Bettelbrief hatten, aus der Stadt.
Es waren bange Minuten, als Philo seinen Bettelbrief zeigte und der Soldat fragte: »Sonst noch jemand in deinem Loch?«
»Nein«, hatte Philo geantwortet, »das hält ja kaum mich aus.«
Der Soldat hatte keine Lust gezeigt, sich das Innere der Behausung anzuschauen.
»Wenn sie den Mörder erwischen, wird er aufgehängt oder gerädert«, sagte Philo. »Ja, da machen sie keinen Unterschied?«, Philo schüttelte den Kopf, »aber wie wollen sie ihn finden? Doch nicht von dem bisschen Herumstochern. Da wollte ich einmal sehen, wie sie den Mörder eines Ratsherrn suchen würden.«
»Das ist ja auch ein gewaltiger Unterschied?«, warf Christoph ein.
»Meinst du?«
Christoph war plötzlich still.
Dann sagte er: »Vielleicht haben sie den Mörder mit hinausgejagt.«
»Dann kommt er wieder. Alle kommen wieder, so ist das nun einmal. Sie treiben die Bettler alle paar Wochen hinaus, aber alle kommen wieder. Wer lässt sich schon von der Futterkrippe vertreiben?«
Nach wenigen Tagen hatte Philo die jüdische Familie ausfindig gemacht, die Verwandte aus Spanien aufgenommen hatte.
»Wer wohnt denn da noch bei dir im Haus?« Der krumme Bettler hatte ein Gesicht, das vor Stoppeln beinahe schwarz war, eine große weiße Narbe, verschwollene, blutunterlaufene Augen und nur noch zwei, drei schwarze Zähne. Er stank so sehr nach Schnaps, dass man kaum Luft bekam. »Wo zwei wohnen, haben auch drei Platz«, fuhr er fort. »Ihr könntet mich ruhig bei euch wohnen lassen.«
Seine Stimme war unangenehm heiser.
Über der Ill stand ein Wolkenturm, die Sonne stach. Die beiden standen in einem Schwarm von Stechfliegen.
Christoph stand hinter der Türe. Schon vor ein paar Tagen hatte ein Bettler nach ihm gefragt.
»Warum sieht man ihn denn nie? – Ist er krank? Oder«, die blutunterlaufenen Augen des Bettlers kniffen sich zusammen, als würde er in sehr helles Licht schauen, »oder muss er sich verstecken?«
»Krank ist er, ansteckend krank, den Grind hat er am Kopf, schon fast keine Haare mehr und voller Flecken. Bald sieht er aus wie du mit deinem versoffenen Glatzkopf. Und er hat ein verschwollenes Gesicht, blau und rot – so wie ich dir eines hinhaue, damit du nicht mehr aus den Augen glotzen kannst, wenn du nicht bald verschwindest!«
Am anderen Morgen stand er wieder mit einem lauernden Blick vor dem Haus, krumm, sehr groß, hager, mit seiner Narbe und einer hölzernen Schnapsflasche in der Hand. Man konnte sein Alter kaum schätzen, er sah kräftig aus. Christoph und Philo beobachteten ihn von der halsbrecherischen Galerie herab. Er stand lange, wie einer, der sich nicht zu verstecken braucht, der seiner Sache ganz sicher ist. Er kaute auf einem Fingernagel und nahm ab und zu einen Schluck aus der Schnapsflasche. Sie saßen mit Herzklopfen oben, umkreist von Stechmücken, gegen die sie sich nicht wehren durften.
Der Bettler hatte viel Zeit. Wie bei einer Belagerung ist es, dachte Christoph, aber die Belagerten dürfen sich hier nicht wehren! Er schaute durch die Bretter zu dem weißen Ausschnitt des Himmels.
So ging es viele Uhrenschläge lang, während sich Philo im Nacken kratzte, dann unter den Achseln, dann am Kopf. Es war schwül. Philo versuchte sogar durch die Zähne zu pfeifen. Zum Glück setzte da der Lärm von den Mühlen ein. Ein Schwarm Krähen, der in allernächster Nähe auf ein paar schrägen Stangen halb im Wasser gehockt hatte, flog auf. Zwei glänzend schwarze Ratten balgten sich zu den Füßen des Narbigen, der mit den bloßen Zehen nach ihnen stieß. Am Ufer wälzte sich eine Hündin und streckte dabei ihren kahlen Bauch mit geschwollenen weißlichen Zitzen nach oben.
Dann schien ein Ruck durch den Mann zu gehen und er lief schnell und entschieden fort, so wie einer geht, der genau weiß, was er will.
»Geht er zum Stelzenklaus oder zu dem Hintermann? Oder wartet er, bis er mich alleine erwischt?«
»Ich glaube nicht, dass er zum Stelzenklaus geht, sonst hätte er nicht den ganzen Morgen hier gestanden. Wie auch immer, wir müssen fort.«
»Wohin?«
»Ein anderes Quartier suchen. Dieses hier ist schon zu verdächtig. Sonst bleiben nur noch die Juden, aber für die wird es auch immer schlechter.«
Christoph trug einige alte Lumpen, als sie gegen Abend aufbrachen. Ein dickes, unglaublich schmutziges Wolltuch hatte ihm Philo um den Kopf gewickelt. Darunter wurde ein blutiger Verband sichtbar. Über einem Auge hatte er eine Augenklappe, das andere hielt er halb geschlossen. Selbstverständlich war er barfuß.
Philo führte ihn – ein Gesunder führt einen Kranken. Philo ging derzeit nicht als Bettler: »Wir müssen in ein ganz anderes Stadtviertel, weg von der Ill, sonst haben sie uns gleich wieder.«
Wie immer in den letzten Wochen waren viele Leute auf den Straßen. An manchen Stellen waren Auflaufe: »Der schwarze Tod ist schon in der Schweiz und in Frankreich!« Das sagte ein dicker runder Mann mit mehligem Gesicht, offenbar ein Bäcker. Sie blieben stehen.
»Jesus, hilf! Was kann man denn tun?«
»In der Schweiz tun sie was. Auch in Frankreich tun sie was«, fuhr der Bäcker fort.
»Was denn, um Himmels willen?«
»Sie bestrafen die Juden! Aber unsere Oberen tun nichts. Sie schlafen!«
Christoph und Philo stellten sich zu der Gruppe, die ständig wuchs.
»Ja, die Juden haben unseren Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen. Damit hat es angefangen.«
Er sprach leise, die hinteren drängten nach vorne: »Jeder weiß, dass die Juden den Christen feindlich sind. Hätten sie sonst unseren Herrn und Heiland an das Kreuz geschlagen?«
Alle bekreuzigten sich.
Philo und Christoph drängten sich nach vorne.
»Sie wollen nichts anderes als die Herrschaft über die Welt. Jetzt hört gut zu: Es gibt ein Gift, das kommt von den Heiden, den Söhnen Mohammeds aus Afrika. Das sind auch unsere Feinde. Wer es isst oder trinkt, der bekommt die Pest und stirbt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen.«
Irgendwo hinter einem Fenster weinte ein Kind.
Der Bäcker machte eine Pause und unterstrich seine Worte mit den Händen: »Mit diesem Gift vergiften die Juden die Christen. Zum Schluss gehört ihnen die ganze Welt.«
»Und wie – «
»Was und wie? Sie tun es in die Brunnen. Alle müssen trinken, also trinken alle die Pest! So einfach ist das!«
Christoph zuckte plötzlich zusammen. »Dort drüben«, flüsterte er und zog Philo am Arm. »Komm!«
Auf der anderen Seite des kleinen Platzes stand der krumme Bettler mit der Narbe. War er ihnen etwa gefolgt? Hatte er sie gesehen?
»In der Menge bleiben«, zischte Philo, »nicht hinsehen.«