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Sie gingen langsam weiter. »Hat er uns gesehen?«

»Wissen wir nicht«, flüsterte Philo, »aber gleich werden wir es wissen.«

Da! Er war wieder hinter ihnen. Er folgte in immer gleichem Abstand, seine lange hagere Gestalt ragte über die Köpfe des Gewimmels in der Gasse heraus. Manchmal konnten sie die Narbe in dem schwärzlichen Gesicht erkennen. Er war zäh, hielt Schritt und war offenbar entschlossen die Verfolgung unerbittlich fortzusetzen.

Christoph hatte das Gefühl, als gingen sie durch halb Straßburg. Einmal, als er sich umschaute und die Gasse hinter ihnen anstieg, erschien der Bettler oben, als wandle ihnen ein Turm nach.

»Wir könnten doch zu deiner Höhle rennen, ihn abschütteln und darin verschwinden. Wir sind schneller als er. Heute Nacht suchen wir dann ein neues Quartier.«

»Das ist eine gute Idee – zu meiner Höhle. Der wird schauen! Aber lass dir Zeit.« Philo griff nach Christophs Arm und ging betont langsamer.

Auch die Gestalt hinter ihnen verzögerte den Schritt.

Philo ging noch langsamer.

»Was soll das?«, flüsterte Christoph erregt. »Du kannst ihm ja gleich eine Einladung zu meiner Ermordung schicken.«

»Wart’s ab!«

Da war das abendliche Illufer, der abschüssige Hang mit den Sträuchern, die Steine und der Unrat, umspült von Wellen, das Ufer auf der anderen Seite erschien bereits schwarz unter dem gelblichen Himmel. Da war der Strauch mit den weißlichen Blüten vor Philos Höhle. Christoph duckte sich und zog Philo am Arm hinunter.

»Wart noch – er soll uns sehen! Jetzt, jetzt sieht er uns – schnell hinein!«

Die Schwärze und Nässe der Höhle umfing sie.

Philo hatte Christoph nach hinten gezogen: »So, erst mal Licht. Willkommen in der Unterwelt.«

Christoph war schon öfter hier gewesen, aber nie gerne. Die Luft war erfüllt von Moder und Verwesung. Die regelmäßigen Steinquader an den Wänden schimmerten grün, als Philo an einem eisernen Kasten, in dem er Glut aufbewahrte, einen Kienspan anzündete.

Algen und Wurzeln hingen in Schlieren vom Gewölbe. Überall tropfte es.

»Für den Kerl da draußen sitzen wir jetzt in der Falle!«

Einen Bretterverschlag hatte sich Philo gebastelt und abgedichtet, der einigermaßen trocken war. Hier konnte er zur Not schlafen, hier hatte er seine Kleider für verschiedene Tätigkeiten, wie er sagte, aufbewahrt, bevor er sie in das schiefe Haus gebracht hatte: »Hier schimmeln sie so schnell!«

»Hierher bringe ich sie vorläufig auch wieder zurück. So, nun beachte bitte den Rauch meines Kienspans.« Philo deutete in das Gewölbe hinein. »Bitte zu folgen – der Weg in die Sicherheit. Er ist nie angenehm.«

»Wenn du nur nicht immer in Rätseln sprechen würdest.« Christoph war es nicht wohl in dieser feuchten Dunkelheit.

»Zu den Juden!«

»Was heißt das?«

»Dass dieses hässliche Gewölbe einen zweiten Ausgang hat, der Rauch, der nach hinten abzieht, beweist es. Der krumme Kerl draußen mag warten, bis er verschimmelt oder durchgerostet ist. Du musst zu den Juden, weil er dich in Straßburg überall aufspüren wird. Vielleicht nehmen sie dich ein zweites Mal auf.«

Es roch brandig und faulig. Der Gewölbegang war viel länger, als man vermuten konnte, er krümmte sich etwas – war es ein Fluchtweg gewesen? Manchmal stolperten sie über einzelne heruntergebrochene Steine. Einmal huschte ein Schatten über sie hinweg – eine Fledermaus? Trippeln und Scharren zu ihren Füßen – Ratten!

Zu den Juden. Christoph dachte an die Predigt des schwarzweißen Mönchs – war es eine Sünde, zu den Juden zu gehen? Aber Elieser, Abraham und Esther: Wo sollte da eine Sünde sein? –

Eine halbrunde Rückwand, bedeckt von Moos, bildete das Ende des Gewölbes. Ein Gitter lag darüber, aus dem grünliches Licht sickerte, ein großer Haufen aus faulem Laub lag darunter.

Philo kletterte Christoph auf die Schultern und rüttelte an dem Gitter. Zum Glück ließ es sich anheben. Dennoch war es nicht einfach, zur Erdoberfläche zurückzukehren.

Sie standen in einem düsteren Baumgarten, dahinter ragten dunkle Gebäude auf. Christoph sah zuerst überall die lange Gestalt des krummen Bettlers hinter den Bäumen – aber kein Mensch war zu sehen.

»Hast du gewusst, dass sich das Gitter heben lässt?« Christoph erkannte die Stiftsgebäude der Thomaskirche.

»Nein.«

Christoph schaute Philo von der Seite an.

»Und wenn uns jemand gesehen hätte – «

Philo zuckte die Schultern.

Vom nahen Turm der Thomaskirche tönte der Stundenschlag durch die Dämmerung, aber Christoph war so aufgeregt, dass er nicht mitzählte.

Als sie durch die dunkelnde Stadt gingen, blieb er mit einem Ruck stehen: »Ist es sinnvoll, zu den Juden zu gehen, wenn die auch verfolgt werden?«

»So schlimm die Wahrheit auch ist, im Augenblick gibt es in ganz Straßburg keinen sichereren Ort für dich als bei den Juden. Freilich«, Philo warf einen Ball in die Luft und fing ihn auf, »wenn sie dich aufnehmen, ist ihr Schicksal dein Schicksal.«

JUDEN

Die vier Männer, die Rat über ihn hielten, nahmen keine Rücksicht auf Christoph, der dasaß mit verkrallten Händen und einem trockenen Mund. Die beiden älteren erinnerten ihn an seinen Vater, nicht nur wegen der Kleidung. Ihre ganze Art war wie die seines Vaters. Sie redeten leise und meist bedächtig, die Stirne in Falten gelegt. Wenn sie eine Meinung gefasst hatten, konnten sie fast leidenschaftlich heftig werden. Es fiel kein böses Wort. Aber sie redeten hart und schonungslos – wie sein Vater. Manchmal fielen Sätze in einer gänzlich fremden Sprache. Er vermutete, dass es Hebräisch war.

Die Männer kehrten aber immer schnell zum Deutschen zurück. Offenbar sollte Christoph alles verstehen.

Auf der Straße hätte er keinen Unterschied zu den Christen gemerkt. Der alte Abraham trug einen weißen Bart. Die anderen waren glatt rasiert. Ihre Kleidung war schlicht, aber vornehm. Die Kleidung der Jüngeren, Elieser und Nachum, war bunt wie die der reichen Kaufleute in Stuttgart, der alte Abraham trug ein weites, dunkles Gewand wie reiche alte Leute aus der Bekanntschaft des Vaters. Nur an der Sprache der Auswanderer aus Aragon merkte man einen geringfügigen Unterschied.

Die beiden jüngeren Männer, Elieser und Nachum, der kaum älter war als Christoph, sprachen zuerst und sie sprachen gegen ihn.

»Gut, wir hatten ihm damals Hilfe versprochen, die wir wegen der Umstände nicht leisten konnten«, begann Elieser. »Aber da war die Lage eine andere als jetzt. Als wir ihn am Purimfest in einer Herberge aufnahmen, wussten wir nicht, wie gefährlich die Lage der Juden in Straßburg ist, dass es fast ist wie in Aragon. Wir wollten ihn nur sicher über den Rhein bringen, sonst nichts. Ich rate ab, ihn noch einmal aufzunehmen. Es ist gefährlich, einen Verfolgten aufzunehmen und den Verfolgern damit auch noch einen Vorwand mehr gegen uns zu geben. Einen Vorwand, den sie ebenso auf alle unsere Brüder anwenden werden. Wir dürfen die Väter und Brüder in Straßburg nicht noch zusätzlich gefährden.«

Nachum nickte.

»Es kann niemand von uns verlangen, dass wir uns in Not begeben, um gegen Not zu helfen. Und wir sind in sehr großer Not, und unsere Not wird größer, wenn wir ihn aufnehmen. Das andere habe ich schon gesagt«, fuhr Elieser fort. Und mit bedauerndem Gesicht zu Christoph: »Wir sind entschuldigt: Noch einmal, wir dürfen unsere Brüder nicht gefährden.«

»Er ist ein Christ«, sagte Nachum, »ein Christ, den ihr aufgelesen habt. Deshalb müsst ihr entscheiden, da es euer Gast war. Und wir müssen eure Entscheidung annehmen. Aber wenn ihr mich fragt, so nehmen wir ihn nicht auf! Es ist schon fast alles gesagt. Aber wir müssen auch bedenken, dass er ein Christ ist. Wie oft haben sie unseren Leuten nicht schon einen Strick daraus gedreht, dass sie einen Christen im Hause aufgenommen haben. Sie lügen dann, wir hätten einen Christen entführt, und drehen alles herum. Es ist auch so, dass wir einem Christen nicht helfen müssen – würde denn uns ein Christ helfen?«