Aufspringen, weggehen! Aber Christoph blieb wie gelähmt sitzen.
Nachums Vater war Löb Baruch. Er war sicher über zehn Jahre älter als Elieser und trug das kostbarste Gewand. Er war ein schwerer, recht ernster Mann.
Er sagte langsam mit einer steilen Falte auf der Stirn, die sich auch bei Nachum fand: »Das Gastrecht ist uns heilig, Nachum, und ich schicke nicht gerne einen Fremden fort, der bei mir Hilfe sucht. Obwohl ihr alle Recht habt. Aber wenn wir Christoph fortschicken – gesetzt, er wird getötet: Dann kommt sein Blut auf mein Haus. Es ist gefährlich; in so schlimmen Zeiten Blutschuld auf sein Haus zu laden. Ich weiß nicht, wie ich raten soll. Es wäre besser gewesen, wenn ihr ihn auf der Landstraße gelassen hättet.«
Christoph saß bleich, zu keiner Regung fähig.
Jetzt erhob sich der alte Abraham in seinem dunklen Gewand, er sprach fast feierlich: »Ich bin ein alter Mann, weither gereist auf der Flucht, um das Leben der Menschen zu schützen, die mir von Gott anvertraut sind. Ob ich es retten kann, mein Leben und ihr Leben, das weiß ich nicht, niemand weiß es. Gott weiß es.«
In dem Raum war es still.
»Das Leben ist wie ein bunter Ball, den einer wirft. Vielleicht wird er aufgefangen, vielleicht fällt er zu Boden und geht verloren im Schmutz und in der Nacht. Es gibt Menschen, die handeln so, als seien sie wie die Dunkelheit und wie der Schmutz. Sie besudeln alles. Sie fangen nur die Bälle, die ihnen gefallen, die anderen lassen sie verderben, und sie sagen, sie seien reich. Aber wie können sie sagen, sie seien reich? Ihr sagt, Christoph sei ein Christ, und Christen brauche man nicht zu helfen. Und ihr habt Recht: Christen helfen uns auch nicht, ja, sie bedrohen sogar unser Leben. Aber ich, der alte Abraham, sage euch: Wer auch nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt. Denn der bunte Ball der Welt muss gefangen werden von den Christen, von den Anhängern Mohammeds, von den Juden, jeden Tag, sonst geht die Welt verloren!«
Es wurde nur noch wenig geredet. Einer nach dem anderen traten die Männer zu Christoph und legten ihre Wange an seine.
Er hatte eine Kammer für sich in dem großen Haus. Er hatte gesehen, dass es eines der größten Häuser im Judenviertel war, als sie herzklopfend davor gestanden hatten. Es unterschied sich nicht von den Häusern der christlichen Bürger Straßburgs.
Jetzt saß er hier in seiner Kammer dicht unter dem Dach und war ganz abhängig von dem Wohl und dem Wohlwollen anderer.
Philo suchte und hörte sich weiter in der Stadt um, die für Christoph zu gefährlich war.
Mit Philo und den Juden war es zuerst nicht einfach. Philo war ein Gaukler und durfte in einer Familie mit dem Bürgerrecht nicht verkehren. Christoph wusste, dass es wie mit dem Henker war. Aber ihn hatten sie aufgenommen –
Nur abends, wenn es niemand sah, sollte Philo in das Haus gelassen werden. Es sei wegen der Gefahr, in der die Juden schwebten. Aber Philo kam dann in Verkleidungen, die weder nach Bettler noch nach Gaukler aussahen, und mit der Zeit konnte er dann kommen und gehen, wann er wollte.
Auch die Juden wollten sich umhören.
»Ich kenne viele Ratsherren sehr gut und will sie, so gut es sich machen lässt, aushorchen«, hatte Löb gesagt. »Aber die Zeiten sind nicht mehr wie noch vor ein paar Wochen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch mit mir reden.«
Aus dem Fenster sah Christoph hinaus auf eine Dächerlandschaft. Die Häuser waren hoch, so hoch wie die höchsten in Stuttgart. Fast alle waren mit Ziegeln gedeckt. In Stuttgart sah man viel mehr Häuser, die mit Stroh gedeckt waren, als in Straßburg. Das Judenviertel, nicht weit vom Münster entfernt, war sehr groß. Es mussten sehr viele Juden in Straßburg wohnen. Es gab auch viele kleinere Häuser, aber sie waren in anderen Gassen. Ob es in allen Judenhäusern so sauber ist wie hier? – Was weiß ich schon über die Juden?
Die Türe öffnete sich und herein kam ein Mädchen. Sie hatte lange schwarze Haare, die sie in eigenartiger Weise in ein Tuch aus Seide verschlungen hatte. Sie war schön, ein schlankes, biegsames Mädchen.
»Du bist Christoph, Schalom.«
»Schalom?«
»Schalom heißt Friede in unserer Sprache. Es soll also Friede sein mit dir.«
»Den kann ich brauchen.« Dann besann er sich auf die Höflichkeit: »Friede sei auch mit dir.«
Sie lächelte und sah noch schöner aus: »Ich kann den Frieden auch brauchen. Ich glaube, alle Juden können ihn jetzt brauchen.«
Er schaute auf den Boden.
Das Mädchen nestelte an seinen Haaren herum: »Ich heiße Esther wie meine Großtante aus Spanien, die du ja schon kennst.« Dann machte sie eine Pause und sagte leise: »Du brauchst dich nicht zu schämen. Ich halte dich für sehr mutig. Du hast sehr viel Unglück gehabt und du solltest das Geschwätz meines lieben Bruders Nachum nicht allzu ernst nehmen.«
»Warum habe ich dich unten noch nicht gesehen?« Er blickte wieder auf. Sie war wohl etwas jünger als er. Sie hatte eine sehr feine Haut, wie er sie noch nie gesehen hatte, und die ihn, obwohl von einem eigenartig hellen Braun, an Elfenbein erinnerte. Ihre Augen waren groß und dunkel. Man sah ihr an, dass sie gerne lachte.
Sie redete ganz unbekümmert.
»Weil ich nicht da war. Ich war mit Rebekka, meiner Freundin, bei einer Nachbarin. Sie hat ein krankes Kind und ist selbst krank, da haben wir geholfen. Meine Mutter ist schon seit einigen Jahren tot.«
Meine auch, dachte Christoph.
»Wir sehen uns ja noch oft, ich freue mich.«
Philo hatte das Haus bei den Gerbern und den Mühlen verlassen und hatte das Steingewölbe am Ufer der Ill bezogen.
Er fühlte sich einsam ohne seine Zieheltern. Man kannte in Straßburg ihre Gauklertruppe. Er wusste, dass es Menschen gab, die auf sie warteten: auf ihre Künste auf dem Seil, das sie über die Straße spannten, auf das Feuerschlucken und Wahrsagen, auf das Radschlagen und Zaubern, auf das Feuerlaufen, auf die Gaukler, die den Leuten Münzen aus der Nase und den Ohren ziehen konnten und den Kindern bunte Fähnchen aus den offenen Mündern fischten, auf den Jongleur mit den vielen bunten Bällen, nämlich auf ihn, Philo. Allein wollte er das alles nicht. Das meiste konnte er sowieso nicht ohne Balthas und Regine.
Andere Jongleure kamen und Philo schaute ihnen kritisch zu.
Aber sie waren schwach – keiner konnte wie er mit acht Bällen jonglieren. Keiner konnte wie er beim Jonglieren mit der einen Hand die Bälle fangen und mit der anderen die Bewegungen der Bälle so geschickt über ihnen begleiten, dass es aussah, als zöge er sie an unsichtbaren Schnüren in die Höhe. Keiner konnte gleichzeitig zwei Bälle mit zwei Händen hochwerfen und dabei einen dritten zwischen beiden Händen hin- und herspielen, als wäre es nichts. Nur er allein konnte das alles.
Er lebte vom Betteln. Darin war er ja ebenfalls Meister. Er hatte einige neue Masken ausprobiert und damit großen Erfolg gehabt. Das Wichtigste war, dass er sich schnell in jemand anderen verwandeln konnte. So konnte er blitzschnell verschwinden, wenn es darauf ankam, und niemand erkannte ihn wieder, wenn er sich mit unschuldiger Miene wieder zu den Leuten stellte, denen er gerade entwischt war.
»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn«, murmelte Löb.
Die drei Zahlen waren auch in der großen Stube von Löb ein Rätsel.
»Die Zahlenfolge kommt in der Kabbala nicht vor. Es dürfte sich um keine Zauberei handeln.«
»Das haben wir auch so gesehen«, sagte Hannah. »Aber was ist es dann?«
»Was ist es dann? Was wissen wir?« Löb sprach fast mit monotoner Stimme. »Ich habe viele alte Juden befragt. Ärzte, Händler, Krämer. Ich habe auch den Rabbiner David Walch gefragt. Fast alle meinten, sie hätten die Zahlen so noch nie gehört: fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Aber ein Arzt sagte, er hätte die Zahlen schon gehört, wenn auch in anderer Reihenfolge.«