Philo holte irgendwann im Münster seine Bälle hervor und ließ sie wirbeln: »Weißt du, das Jonglieren gefällt vielleicht dem lieben Gott auch. Wann bekommt er so etwas schon zu sehen? Und schließlich habe ich diese Gabe ja von ihm, und da darf er ruhig sehen, dass ich etwas daraus gemacht habe.« Manchmal, wenn es Mitternacht geschlagen hatte, hörten sie Mönchsgesänge hinter Klostermauern und hörten lange zu.
Einmal sahen sie im Mondlicht wie durch einen Ausschnitt das schiefe Haus, aus dem sie der narbige Bettler vertrieben hatte. Der Giebel mit seiner düsteren Brettergalerie neigte sich in der Nacht noch gefährlicher dem Wasserspiegel zu, in dem die Leiche des Alten gefunden worden war.
Am Ufer der Ill saßen in warmen Nächten oft noch Bettler und tranken. Sie waren misstrauisch, denn sie kannten Philo nur in seiner Maske als Bettler.
Philo hatte aber Christoph völlig verkleidet. Er ging in Lumpen und hatte einen blutigen Verband um den Kopf gewickelt. Ein Pflaster klebte über einem Auge.
»Jetzt würde dich nicht einmal deine Mutter erkennen.«
Die Bettler wärmten sich unter den Brücken an kleinen Feuerchen. Junge und Alte, verwitterte Gesichter, struppige Bärte, verhungerte Gestalten. Hölzerne Schnapsflaschen kreisten. Dass es viel weniger Blinde, Krumme und Lahme gab als vor dem Münster, wunderte Christoph nicht mehr. Aber er sah Männer, denen die Wangen durchstochen oder gebrandmarkt waren. Er sah einen, der hatte die rechte Hand und das linke Bein nicht mehr. Das war ein Dieb und Wegelagerer, den sie bestraft hatten. Auch sah er einen, dem sie die Ohren abgeschnitten hatten.
Christoph musste sich noch immer sehr überwinden sich zu diesen dreckigen, nach Schnaps stinkenden Menschen zu setzen.
Geredet wurde über den Tod des Alten. Philo verfolgte das Thema hartnäckig.
»Ich habe ihn gut gekannt. Es war ein versoffenes Schwein, aber sonst ganz in Ordnung.« Es war ein junger, sehr zerlumpter Bettler, der das sagte. Er schielte so grässlich, dass man nicht wusste, ob er einen anschaute oder nicht.
»Er war selbst schuld. So besoffen, dass er in die Ill geflogen ist. Aber das passt zu ihm.« Das sagte der Dieb, dem sie die Hand und den Fuß abgehackt hatten. Auch er war halb betrunken.
»Du, mach dich nicht mausig«, sagte der Schieler, »du bist in letzter Zeit ein wenig vorlaut. Du redest gefälligst, wenn du gefragt wirst.«
Die anderen nickten.
»Jeder weiß, dass er erstochen worden ist«, sagte ein Bettler, der offenbar nur noch einen einzigen Zahn hatte, dass man ihn kaum verstand, »und sie haben nicht herausbekommen, wer es war.«
»Es ist ihnen gleichgültig. Wäre es ein Ritter oder Kaufherr gewesen, hätten sie die Folter gebraucht und den Täter schnell gehabt.«
Christoph wollte etwas sagen, aber er sah den Blick von Philo und schwieg.
Jetzt redete ein verwitterter alter Bettler, der einigermaßen nüchtern schien und dem die anderen Platz machten: »Er war anders an diesem Abend. Er war sehr aufgeregt. Er hatte es wichtig. Ganz anders als sonst. Er hat sich an jedem Abend in aller Stille voll laufen lassen. An diesem Abend war er anders. Wie soll ich es beschreiben? Er war wie ein Kind an Weihnachten. Er hatte etwas vor.«
»Mich hat das auch gewundert, dass er mitten in der Nacht noch fortgegangen ist. Er hat gemurmelt und vor sich hin gebrabbelt, aber das hat er immer gemacht«, sagte der Dieb.
»Wen interessiert, was dich wundert!«
»Ist er allein gegangen oder war noch jemand bei ihm?«, fragte Philo.
Der alte Bettler antwortete: »Er ging allein. Aber er kann sich weiter oben mit jemand getroffen haben, das konnte ich nicht sehen.«
»Hat er etwas mitgenommen?«, fragte Christoph.
»Vielleicht seine Schnapsflasche, ohne die ist er eigentlich nie gegangen«, antwortete der Alte und nahm selbst einen Schluck.
»Er hatte sie ja noch in der Hand.«
»War aber leer.« Ein Einäugiger zeigte seine letzten beiden Zähne. »Den Schnaps hat wohl die Ill ausgesoffen.«
Die anderen grölten.
Christoph sah auf einmal seinen Vater vor sich, den stolzen Mann, der zu Pferde gesessen war wie ein Ritter. Wenn er noch leben würde – der Atem stockte –, dann wäre er jetzt ein Bettler wie die! Man konnte es sich nicht vorstellen: Der Vater an einem Feuer unter einer Brücke an der Ill mit einer Schnapsflasche in der Hand, halb betrunken –
»Was macht die Sache mit dem Blutgeld, mit den sechs Gulden?«, hörte er Philo sagen. »Die würde ich mir gerne verdienen. Könnt ihr mir nichts sagen?«
»Du spinnst wohl! Die will sich jeder verdienen. Das ist ein Haufen Geld.«
»Wenn ich ihn gesehen habe – «
Sofort war es totenstill.
Philo hob die Hand: »Wenn ich ihn sehe, wo hole ich dann das Blutgeld?«
Der Alte erhob sich mühsam: »Der Stelzenklaus, du musst es dem Stelzenklaus sagen.«
»Und wenn ich nicht teilen will?«
Eisiges Schweigen.
»Hör gut zu«, sagte der Einäugige gefährlich leise, »wenn du nicht teilen willst – « Er fuhr sich mit der Hand über die Kehle.
»Der viele Schnaps – «, sagte Christoph angeekelt, als sie weiterzogen.
»Bankrotteure, Krüppel, Verbrecher – die meisten brauchen ihn, sonst kommen die Erinnerungen. Wir Gaukler saufen nie, sonst fallen wir vom Seil und verlieren die Bälle.«
Einmal kamen sie am Ende einer schwarzen Gasse, die sich platzartig erweiterte, an ein sehr hohes steinernes Haus, in dem sämtliche Fenster von innen hell leuchteten wie zu einem Fest. Selbst die Fenster im Giebel waren hell. Doch alles war tot: Keine Musik erklang, keine Stimme war zu hören.
Das Haus war sehr stattlich, wie das Haus eines großen Kaufherrn. Auch waren die Fenster aus Glas. In den Giebelgeschossen standen die Holzläden offen.
Philo zog sich an einem Gesimse hoch.
»Was siehst du?«
»Du glaubst es nicht. Das musst du dir anschauen, komm herauf.«
Christoph zog sich ebenfalls an dem Gitter hoch, was viel länger dauerte als bei Philo. Schließlich kauerte er neben ihm auf einem Steingesimse und hielt mühsam das Gleichgewicht.
»Mensch!«
Sie sahen in einen prächtigen hohen Saal, hell wie in einer Kirche. Es gab fast keine Möbel in dem Raum, aber Kerzen, Kerzen, Kerzen standen dicht an dicht auf jeder ebenen Fläche, auf dem steinernen Fußboden, auf den Gesimsen und auf jeder Stufe einer Steintreppe im Hintergrund des Saales.
Alle brannten lautlos.
Niemand war zu sehen.
Beide starrten auf die Flammen, die unbewegt, fast starr brannten.
Es war wie Zauberei. Es war wie im Märchen.
»Wir sollten hineingehen«, flüsterte Philo.
»Dort hinten ist eine Türe«, antwortete Christoph mit gepresstem Atem. Das Hoftor war nur angelehnt und quietschte etwas. Sie hielten den Atem an, aber alles blieb still.
Vorsichtig schlüpften sie durch die rückwärtige Türe in den großen Saal. Die Kerzen flackerten, als sie die Türe hinter sich zuzogen, beruhigten sich aber wieder und brannten still wie zuvor.
Sie sprachen kein Wort. Aber als hätten sie es ausgemacht, strebten sie beide der steinernen Treppe zu, die nach oben führte.
Schon die kleine Strecke zwischen Türe und Treppe war schwer zu überwinden, ohne eine der unzähligen Kerzen zu berühren, von denen der Boden und die Stufen fast bedeckt waren, Licht bei Licht.
Philo hielt den Finger an die Lippen, als er auf einen schmalen Zwischenraum deutete, der einen engen Pfad auf den Stufen freiließ, und machte ein bedenkliches Gesicht. Dann hielt er den Mund an Christophs Ohr: »Oben ist jemand!«
Die Kerzen heizten. Im Schacht der Wendeltreppe war ein Sog heißer Luft, der die Flammen sanft neigte, aber nicht zum Flackern brachte. Langsam, ganz langsam stiegen die beiden höher. Immer wieder blieben sie stehen und horchten, aber nichts war zu hören. Auf der Wendeltreppe konnten sie jederzeit jemand in die Arme laufen. Hier im Inneren der steinernen Schnecke waren jetzt endlich keine Kerzen mehr.