Eine offene Türe führte zu einem weiteren Saaclass="underline" Auch hier war alles voll brennender Kerzen, der Fußboden war bedeckt von ihnen, die Gesimse, einige Tische und Bänke, aber niemand war zu sehen, und überall die Hitze und diese große Stille. Auch im Eingang zur Wendeltreppe, die noch höher führte, wohl hinauf auf den Dachboden, ließen die Kerzen wieder einen schmalen Pfad frei. Als sie die Türe aufgemacht hatten, begannen die Flammen dreier Kerzen, welche die Treppe wohl in ihrem Inneren ausleuchten sollten, unruhig zu flackern, ein Luftstrom schien die Treppe herabzufließen.
Sie betrachteten die Kerzen nachdenklich, als plötzlich die Kerzen im Saal unmittelbar bei der Türe ebenfalls wild zu flackern begannen.
Da hatte Philo Christoph schon am Arm gepackt und zog ihn die Treppe hinab. So rasch ging das, dass sie ins Stolpern kamen und sich an den Wänden Hände und Ellbogen aufschürften.
»Oben muss jemand eine Türe aufgemacht haben, dass ein Durchzug entstanden ist«, flüsterte Philo hastig, während sie treppab rannten. »Wenn wir unten das Flackern bemerken, so sehen sie es oben genauso, wenn unten jemand die Türe öffnet.«
»Weiß ich auch! Wirf keine Kerze um!«
Hörte man von oben nicht Schritte?
Sie rannten vorbei an der Türe zum unteren Saal und hinaus. Hinter sich hörten sie jetzt deutlich Poltern und dumpfe Rufe.
Da waren sie schon im Hof und zur Hoftüre hinaus.
Sie rannten auf der Straße weiter. Dann bog Philo in einen kleinen Hof und sie hockten sich hinter ein Steingewände.
Aber es war wie verhext. Alles blieb still – niemand kam.
»Wem gehört das Haus?«, fragte Christoph.
Philo wusste es nicht.
Abends erzählte man Geschichten.
Abraham redete vom Juden Isaak, der am Hofe Karls des Großen gelebt hatte: »Als Karl der Große, der die Juden sehr schätzte, eine Gesandtschaft zu Kalif Harun al-Raschid nach Bagdad schickte, um sein Kaisertum vom mächtigsten Mann des Orients bestätigen zu lassen, war auch ein Jude dabei. Er hieß Isaak und der Kaiser hatte ihn wohl vor allem seiner Gelehrsamkeit wegen mitgeschickt. Er konnte Arabisch und Persisch, Sprachen, die auch heute fast niemand im Abendland beherrscht.«
»Mein Vater konnte ein paar Brocken Arabisch«, sagte Christoph.
»Unterbrich Abraham nicht, das gehört sich nicht für einen Jungen«, sagte Nachum.
»Es heißt auch: Sei zu Gästen so höflich wie zu einem König«, sagte die alte Esther und strich Christoph und Nachum über das Haar.
»Er ist wohl auch mitgeschickt worden, weil er unterwegs viele Leute kannte. Wir Juden haben viele Verwandte auf der ganzen Welt. Der kluge Kaiser machte sich auch das zunutze. Die Gesandtschaft brach auf, sie fuhr mit Schiffen, sie wanderte mit Karawanen, sie durchquerte Meere und Wüsten. Dann war sie in Bagdad. Das ist eine herrliche Stadt mit großen Moscheen, prächtigen Kirchen, berühmten Synagogen.«
»Kirchen?«, warf Christoph ein. »Kirchen bei den Ungläubigen?«
»Es ist nicht überall so wie in Straßburg – «, begann Nachum.
»Kalif Harun al-Raschid war ein vernünftiger Mann, Nachum, so vernünftig wie Kaiser Karl der Große.« Abrahams Stimme wurde warm: »Christen, Muslime und Juden waren gleichermaßen angesehen bei ihm. Wichtig war für ihn, was jemand für das Gemeinwesen leistete, nicht die Religion. Dabei war er ein strenggläubiger Muslime. Ich glaube, der Prophet selbst hat nicht gewollt, dass sich die Religionen gegenseitig bekämpfen. Ich glaube auch nicht, dass Jesus Christus das gewollt hätte.«
Abraham schaute in die Ferne.
»Nun gut – die Gesandtschaft wurde prächtig empfangen, Feste wurden gefeiert, Geschenke wurden ausgetauscht, es wurden Gespräche geführt und Isaak hat alles richtig übersetzt und nach einigen Wochen des schönsten Lebens machten sich die Gesandten daran zurückzukehren. Reich beladen waren sie. Nie war eine Karawane so reich wie die des Kaisers, als sie von Bagdad aufbrach. Das Großartigste, was sie mitbekamen, war ein weißer Elefant.«
»Ein weißer Elefant?«
»Der Elefant war ein Geschenk des Kaisers von Indien an den Kalifen. Ein richtiges Geschenk für einen Kaiser, denn weiße Elefanten sind das Zeichen der Herrschaft über die Welt. Er war sehr kostbar und dabei so empfindlich, dass er niemand auf sich reiten ließ. So musste er an einem Seil mitgeführt werden. Aber wie es so geht, die überaus reichen Geschenke, welche die Karawane mit sich führte, lockten Gesindel an. Die ersten Überfälle konnten von den Soldaten abgewehrt werden, die der Kalif ihnen mitgegeben hatte. Aber als man an die Grenze kam, kehrten die Soldaten um. Es kam zu Kämpfen, es gab Tote, Gesandte wurden gefangen genommen und mussten gegen kostbare Geschenke ausgetauscht werden. Die Karawane musste Futter für die Tiere kaufen. Ihr glaubt nicht, welchen ungeheuren Berg Heu allein Abulabas jeden Tag zu fressen bekommen musste.«
»Abulabas?«
»So hieß der weiße Elefant. Ich glaube, er war sehr verwöhnt; er ließ ja auch niemand auf sich reiten. Der Kalif wird ihn gerne losgeworden sein. Es heißt, Abulabas habe einmal aus lauter Übermut die berühmten und herrlichen Gärten des Kalifen verwüstet. Die Karawane wurde immer kleiner, die Kostbarkeiten des Kalifen schwanden wie der Schnee in der Sonne.«
»Und Isaak?«
»Allein der Jude Isaak wandelte unbeirrt seiner Straße. Er ging unbeachtet in einiger Entfernung hinter der Karawane und er hatte die kostbaren seidenen Gewänder und goldenen Ketten, die ihm der Kalif geschenkt hatte, nicht angezogen, sondern einen alten speckigen Kaftan. Manchmal ritt er auf einem dreckigen kleinen Esel. Er schlief auch nicht in den großen Karawansereien, wo die Räuber nach Beute Ausschau hielten, sondern er fand immer Unterkunft bei den jüdischen Brüdern am Wege. Denn wir Juden müssen einander helfen, hier und auf der ganzen Welt, sonst gehen wir zugrunde. Vor ihm zog unter Paukenschlägen, Trompeten und Schellenklang die blitzende und funkelnde Karawane auf herrlichen Araberhengsten, weißen Kamelen und edelsten Maultieren, angeschirrt mit Gold, Silber und Juwelen. Sie verlor freilich immer mehr an Glanz, so wie der Mond, wenn er voll ist, mehr und mehr schwindet, bis er zum Schluss nicht mehr zu sehen ist. Die Karawane schwand und schwand und eines Tages war Isaak allein mit Abulabas.«
»Wollten die Räuber Abulabas nicht? Sie hätten ihn doch sicher teuer verkaufen können.«
»Nein, Christoph. Ich denke mir, dass Abulabas nicht wollte.
Und wenn ein Elefant etwas nicht will, so kann man ihn schwer dazu zwingen – und dazu noch einen weißen und so verwöhnten Elefanten wie Abulabas! Vielleicht wollten ihn aber auch die Räuber nicht haben, weil er ja sehr viel fraß, was übrigens für Isaak kein kleines Problem war. Aber die Juden halfen ihm auch hier und veranstalteten Sammlungen für Abulabas: So konnte Isaak sich und Abulabas durchfüttern den ganzen weiten Weg. Und ab und zu hat er geredet mit dem weißen Elefanten, und Abulabas hat wohl auch geredet mit ihm, und es ist anzunehmen, dass sie sich verstanden haben, die beiden.«
»Und er ist nie auf ihm geritten?«
»Nein, Nachum, da er sich von niemand besteigen ließ, konnte auch Isaak nicht auf ihm reiten. Er ging immer neben ihm im Staub der Straße, im Schlamm, im Dreck. Er begegnete unzähligen Völkern. Und wenn sie den Juden gesehen hätten in seinem Schmutz und seiner Niedrigkeit, hätten sie gelacht und mit Steinen nach ihm geworfen. Aber sie sahen nur den weißen Elefanten. Und wenn einer doch den Juden sah: Man wirft nicht mit Steinen auf einen, mit dem ein weißer Elefant geht.«
»Ist er nicht mehr mit dem Schiff gefahren?«