»Vielleicht – nein, Esther, ich glaube, das konnte er nicht – eben wegen Abulabas. Kein Schiffer hätte Abulabas auf sein Schiff genommen. Vielleicht hätte aber auch Abulabas nicht gewollt.«
»Und die anderen Gesandten?«
»Vergangen wie die Schönheit des Mondes! Erschlagen von Räubern und Gesindel, gestorben an Krankheiten und Seuchen, gefangen und in der Wüste verirrt und jämmerlich verdurstet oder verhungert, als Sklaven verkauft oder ausgeraubt und verzweifelt und bettelnd irgendwo umgekommen. Nicht einer von den großmächtigen, reichen, prächtigen Herren hat sein Heimatland je wieder gesehen. Nur Isaak ist zurückgekommen. Angetan mit seinem entsetzlich dreckigen schwarzen Kaftan, einen riesigen, schmierigen Lederbeutel auf dem Rücken, der so gestunken hat, dass man Isaak nicht einmal in die schmutzigste Herberge lassen wollte.«
Esther lachte und hielt sich zum Spaß die Nase zu.
»Und so ist er gekommen vom Zweistromland nach Ingelheim am Rhein, den Beutel auf dem Rücken. Und unter dem Staunen des ganzen kaiserlichen Hofes ist er, den weißen Elefanten Abulabas an einem Seil hinter sich führend, auf dem Kaiserhof eingezogen.«
Esther klatschte in die Hände.
»Und er ist hingetreten vor den großmächtigen Kaiser des Abendlandes. Der hat zuerst Abulabas angeschaut und dann Isaak. Dann kam Abulabas in die kaiserlichen Ställe und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Den Isaak aber hat der Kaiser gefragt: ›Isaak, wo ist meine Gesandtschaft?‹ ›Tot‹, hat Isaak gesagt. ›Und was ist mit dem Kalifen Harun al-Raschid?‹ Da hat Isaak seinen schmierigen, dreckigen Beutel aufgemacht und hat Edelsteine, Gold, Perlen und viele andere Kostbarkeiten ausgepackt, wie man sie weder am Rhein noch sonst irgendwo im Abendland jemals gesehen hatte.«
»Eine sehr schöne Geschichte hast du uns erzählt und ich weiß, dass sie wahr ist«, sagte Hannah.
Esther drehte sich unter der Türe noch einmal um: »Ich glaube, ich träume heute Nacht von einem weißen Elefanten.«
Elieser war weggereist: Er musste in der kaiserlichen Kanzlei in Prag das Bürgerrecht für sich und seine Familie kaufen. Nachum sagte zornig, dass es für einen Juden zwanzigmal so teuer sei wie für einen Christen.
»Blutgeld!«, sagte er mit der steilen Falte auf der Stirn. »Blutgeld?«, mischte sich Löb ein. »Was soll das jetzt?«
»Sie lassen uns zahlen, wo sie nur können«, sagte Nachum, »das Blut ihrer Kinder saufen wir, sagen sie, wir fangen ihre Kinder, schlachten sie, sagen sie, sammeln ihr Blut und trinken es und kochen unsere Speisen damit, sagen sie und bestrafen uns dafür. Dabei dürfen wir nicht einmal Fleisch in der Milch der Tiere kochen. So ist das. Wir dürfen nach unserem Gesetz gar kein Blut essen – ihr esst und trinkt Blut!«
Für Christoph war es neu, dass Fleisch nicht in Milch gekocht werden durfte: »Da ist doch nichts dabei.«
Löb erklärte es ihm: »Für uns Juden ist das Leben etwas Heiliges.«
Christoph erinnerte sich an das Wort des alten Abraham, das ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte: Wer ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt. Es war zwar sehr schön für ihn, aber so recht verstanden hatte er es nicht.
Löb fuhr fort: »Es ist schlimm, dass wir Tiere töten müssen, damit wir leben können. Du musst bedenken, dass unsere Väter in der Wüste jeden Tag bei ihnen waren. Sie halfen den Tiermüttern bei der Geburt des jungen Viehs, sie führten die Tiere von einem Weidegrund zum anderen, sie gaben ihnen das kostbare Wasser.
Dafür geben uns die Tiere fast alles, was man zum Leben braucht: Milch und Eier, Wolle und Leder, Felle, Horn und Knochen. Die Milch ist aber ursprünglich nicht für uns bestimmt, sondern für die jungen Tiere, die Kälber und die Lämmer. Wir aber nehmen die Milch und schlachten die Lämmer und die Kälber und essen ihr Fleisch. Würdest du es nun für richtig halten, wenn man die Milch, die doch von Gott für das Leben der jungen Tiere bestimmt ist, mit ihrem Fleisch zusammen kocht, isst oder trinkt?«
Christoph staunte, so hatte er das nicht gesehen.
»Wir essen auch kein Blut. Es liegt kein Segen auf dem Blut als Nahrung: Die Speisen verderben schnell, die Blut enthalten, sie sind auch nicht so bekömmlich. Es ist das Leben selbst, das auf besondere Weise geschützt wird. So denken wir Juden.«
Christoph spürte, was der Jude nicht sagte: Und so retten wir dir das Leben, obwohl du uns in große Gefahr bringst. Und er war ihm dankbar, dass er es nicht sagte.
Als Christoph unwillkürlich seine Hand fasste und küsste, ließ es Löb zum ersten Mal geschehen.
Ein kleiner Garten war hinter dem Haus. Jetzt im Sommer war er unter einem Ausschnitt des blauen Himmels eine umgrenzte Welt von Blumen zwischen Mauern und Dächern. Alles blühte durcheinander, Hummeln, Bienen, Schmetterlinge und Vögel flogen darüber hin.
Christoph sah Esther, wie sie sich über eine Blüte beugte.
Wie schön sie war.
»Die Blume bei den Blumen.« Er fand diesen Anfang gut.
»Und der Elefant im Garten!« Lachend richtete sie sich auf.
»Elefant? Dann wenigstens ein weißer – «
»Na, findest du das besonders gut – die Blume bei den Blumen?«
Christoph wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er hatte immer wenig Umgang mit Mädchen gehabt und fühlte sich befangen, wenn er mit einem Mädchen reden sollte. Seine Schwester war gestorben, als sie noch sehr klein war. Auch seine Mutter war gestorben.
Er blickte vor sich auf den Boden.
»Woran denkst du?« Esther hatte eine Blume gepflückt und betrachtete sie kritisch. »Ob die dir wohl steht?« Es war eine Mohnblume, so groß und von so dunklem Rot, wie er es noch nie gesehen hatte.
Esther kam ganz nah, Christoph spürte ihren Atem und den Duft ihrer Hände, als sie versuchte die Blume in seinen Haaren festzumachen. Er war verlegen, aber er hielt ganz still. Ihre Hand berührte seine Wange. Ganz nah war ihr Gesicht.
Er fühlte, wie sie in seinen Haaren herumfuhrwerkte.
»Der weiße Elefant, er soll doch geschmückt werden.«
Ihre schwarzen Augen waren sehr groß.
»So buschige Haare, fast wie Draht«, sagte sie und lachte wieder, »ein weißer Elefant mit schwarzen Haaren – «
»Und wo soll mein Rüssel sein?«
»Da«, sagte sie lachend und fuhr ihm mit dem kleinen Finger die Nase abwärts. Wenn sie lachte, stand helles Wasser in ihren Augen.
Seine Hände zitterten etwas, als er ihre Hand fing und sie festhielt.
»Jetzt müsste der weiße Elefant nur noch ein goldenes Glöckchen haben.«
»Meine Mutter hatte eines«, sagte er und fühlte sich eingehüllt wie in eine Wolke. »Als ich noch ganz klein war, durfte ich damit spielen. Es klang sehr hell, als wäre es aus Silber. Wir spielten das Feenspiel.«
»Feenspiel?«
Er strich sacht über ihren Handrücken: »Wenn das Glöckchen läutet, dann wird man verwandelt, in eine Blume, in ein Eichhörnchen, in einen Löwen – «
»In einen weißen Elefanten. Du, die Blume fällt gleich herunter.«
Sie fing sie auf: »Mit meiner Mutter war ich immer im Land des goldenen Regens.«
»Land des goldenen Regens?«
»Ja. Wenn es sanft regnet und du hörst genau zu, klingt es immer wieder, als fielen einzelne Goldstücke zwischen den Regentropfen. Der Regen kommt aus dem Meer, hat meine Mutter gesagt, aber der Regen, der wie Gold klingt, kommt aus dem Land des goldenen Regens. Und er bringt den Segen.«
»Regnet es dort Gold?«
»Nein. Das Land des goldenen Regens liegt in der Wüste. Ringsum ist alles unfruchtbar, Sand, Steine, Staub, alles verbrannt und trocken. Wo vielleicht einmal ein Fluss war, ist nur heißer Kies. Nirgendwo ist der Staub so durstig wie in dieser Wüste. Aber es regnet nie, nicht einmal in hundert Jahren.«
»Und das Gold?«
»Mitten in dieser Wüste liegt das Land des goldenen Regens. Kannst du dir vorstellen, wie kostbar dort der Regen ist, wo die Sonne hundertfach scheint? Aber er bringt auch viel mehr Segen. Weißt du übrigens, dass Baruch gesegnet heißt?«