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Philo erfuhr es von einem Bettler: »Schon der zweite diesen Sommer. Man ist seines Lebens nicht mehr sicher hier. Da brauchen wir nicht mehr auf die Pest zu warten.« Er bekreuzigte sich.

»Wo?«

»Drüben, ziemlich weit oberhalb des ersten Mühleneinlaufs, an einem Pfahl bei den Fischernetzen.«

»Wieder ein Bettler?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Ertrunken?«

»Nein, sie sagen, von hinten erstochen und ins Wasser geschmissen.«

Ein anderer Bettler kam hinzu: »Das war’s dann. Vorbei mit dem großen Geld.«

»Das große Geld?«, fragte Philo verwundert. »Welches Geld denn?«

»Welches Geld! Frag nicht so blöd. Die sechzig Gulden.«

»Welche sechzig Gulden?« Philo und der erste Bettler sprachen gleichzeitig.

»Das Geld für den gesuchten Mörder, den Jungen. Fragt nicht so blöd.«

Philo krampfte die Hände zusammen: »Nicht sechzig – meinst du sechs Gulden?«

»Sechzig oder sechs. Was macht das für einen Unterschied!«

Es war ein trüber Morgen. Wie Rauch trieben Dunstschwaden über dem Fluss.

»Wo ist er?« Philos Mund war trocken.

»Sie haben ihn gleich weggebracht. Ich glaube nicht, dass sie ihn auf den Friedhof bringen – eher unter den Galgen oder auf den Schindanger.«

»Wo hat man ihn denn genau gefunden?« Philo atmete hastig. Freilich – konnte man diesen Kerl ernst nehmen, der nicht einmal den Unterschied zwischen sechzig und sechs wusste?

»Kannst du mir die Stelle zeigen?«, fragte er den ersten Bettler. Der Schweiß brach ihm aus.

»Warum willst du denn das wissen? Dem kann niemand mehr helfen.«

»Doch, seiner Seele. Ich will für ihn beten. Es ist sehr verdienstvoll. Vielleicht habe ich ihn gekannt.« Sein Herz schlug heftig.

Die Ill stand ziemlich hoch, so schauten nur die Köpfe der Pfähle aus der glatt ziehenden schwarzen Fläche heraus.

»Hier war es.« Der Bettler zeigte auf einen Pfahl in Ufernähe.

Über einige Pfähle waren Bohlen gelegt, damit die Fischer an ihre Reusen herankamen. Netze hingen im Wasser. Einige Fischer standen am Uferweg und zeigten auf den Fluss hinaus.

»Wo ist er wohl erstochen worden?«

»Wolltest du nicht für ihn beten?« Der Bettler sah ihn von der Seite an.

»Ja, aber ich glaube, das ist am wirkungsvollsten dort, wo er ums Leben gekommen ist.«

»Das glaube ich auch. Aber war das nicht hier?«

»Im Fluss? Auf einem Pfahl? Er muss irgendwo ins Wasser geworfen worden sein. Von dort muss die Ill ihn abwärts an den Pfahl getrieben haben.«

Sie schauten flussaufwärts. Der Nebel lagerte dort dichter über dem Fluss. Aus den grauen Schwaden hob sich die dunkle Masse der Stadtmauer mit einigen hohen Türmen ab, die dort oben mit langen Brücken die Arme der Ill überquerte. Eine Krähe flog krächzend über die Gedeckten Brücken hinweg, wie man diese Befestigungen am Einlauf der Ill in die Stadt nannte. Die Arme, in die sich der Fluss vor den Mauern der Stadt teilte, bildeten zuerst einige baumbestandene Inseln und vereinigten sich gleich nach dem Einlauf zu einem kleinen See. Von einer der Inseln konnte der Tote nicht hergeschwemmt worden sein.

Philo war es übel. Es konnte einfach nicht sein. Christoph war doch wohl behütet bei den Juden! Was wollte er nachts bei den Gedeckten Brücken? Er hätte es ihm gesagt. Er kannte ja sein Versteck ganz in der Nähe.

Aber Philo wusste von keinem anderen Blutgeld, das so hoch war. Die Bettler redeten von nichts anderem – reich werden! Oder sollte es doch noch ein anderes Blutgeld geben? Er musste den Bettler zum Reden bringen, er musste sich die Beschreibung des Ermordeten sagen lassen.

»He, betest du schon?«

»Das Blutgeld. Wie sah denn der Tote aus?«

»Das weiß doch jeder. Mist, dass man es sich jetzt nicht mehr verdienen kann, glaubst du, der Stelzenklaus weiß davon?«

»Was weiß ich. Weißt du, ich glaube, beim Beten für einen Toten muss man sich den Verstorbenen genau vorstellen und dann sein Vaterunser für ihn sprechen.«

»Wenn du ihn doch gekannt hast. Was fragst du dann, wie er ausgesehen hat?«

»Vielleicht habe ich ihn gekannt, vielleicht auch nicht. Weißt du nicht, dass es nichts Verdienstvolleres gibt als ein Gebet für einen Verstorbenen, den man nicht gekannt hat? Vor allem für Ermordete, die ja ohne Reue gestorben sind und für lange, lange Zeit in das Fegefeuer kommen.«

Der Bettler war hartnäckig: »Aber jeder kennt die Beschreibung.«

»Du bist ein Blödmann, wie kann ich mir die Beschreibung vorsagen und gleichzeitig beten?«

»Und du meinst, wir sollen dorthin gehen, wo er in das Wasser geworfen worden ist?«

»Es muss an der Gedeckten Brücke gewesen sein. Zwischen der Befestigung und dem Pfahl, an dem er hängen geblieben ist, gibt es nur glattes Wasser, kein Hindernis, und die Strömung kommt von dort.«

»Du bist sehr gescheit«, sagte der Bettler und schaute ihn bewundernd an.

»Komm, vielleicht finden wir noch Spuren.«

Unter dem Dach der Gedeckten Brücken war es dunkel. Unter ihnen zog schwarz der Fluss, der hier sehr breit war. Vom Fluss herauf roch es nach Wasser, Teer und Rauch. Ihre Schritte klangen hohl. Über ihnen im Gebälk hingen in Büscheln Fledermäuse. Hier im Wehrgang stank es nach Moder und Kot. Taubendreck, vermischt mit dem Dreck der Fledermäuse, knirschte unter ihren Füßen. Philo beobachtete scharf das Holzgeländer, an dem sie auf der Innenseite des Wehrgangs entlanggingen.

Er klammerte sich mit fiebrigen Händen an den Brüstungsbalken und versuchte abzuschätzen, von wo aus die Leiche an den Pfahl getrieben werden müsste. Er las einige Strohhalme vom Boden auf, die aus einem Vogelnest gefallen waren, und warf sie in den Fluss: Wo trieben sie hin? – Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Und wenn er nun auf einem Boot ermordet worden war? –

»Und warum meinst du, dass er nicht dort ermordet worden ist, wo man ihn gefunden hat?«

»Ich habe es schon einmal gesagt – im Fluss, an einem Pfahl.«

»Stimmt. Du bist wirklich sehr schlau.«

Dort drüben, zehn, fünfzehn Schritte weiter könnte es sein, und da: Diese dunklen Flecken – jawohl, das war Blut! Philo steckte einen Finger in den Mund und rieb mit dem nassen Finger über den dunklen Fleck, der sich über die Brüstung ausbreitete: Der Finger färbte sich rot.

Er hielt ihn dem Bettler vor die Nase: »Blut! Hier war es. Hier wollen wir beten.«

Der andere hatte die Augen weit aufgerissen: »Woher weißt du das alles? Oder warst du – «

»Wir haben doch gemeinsam nachgedacht. Wir haben doch die Stelle gemeinsam gefunden. Du warst doch dabei.«

Der Brüstungsbalken war voller Staub, bei den Blutflecken war kein Staub.

Der andere hatte sich niedergekniet. Jetzt sah Philo die Flecken auch auf den Bohlen, auf denen sie standen. Hier war der Staub weggescharrt. Es gab keinen Zweifel.

»Vater unser«, begann der andere.

»Das gilt nicht«, fiel ihm Philo ins Wort, »ich hatte den Einfall und ohne mich hätten wir die Stelle nicht gefunden, obwohl du eine große Hilfe warst. Aber ich darf zuerst beten, das ist noch verdienstvoller. Und du sagst langsam, während ich bete, wie der Tote ausgesehen hat.«

Philo kniete und sagte laut das Vaterunser.

»Er war ziemlich groß für sein Alter, etwa vierzehn Jahre alt, mager wie ein Bettler, hatte aber gute Schuhe an, und er hatte buschige schwarze Haare und blaue Augen.«

Das Dach der Gedeckten Brücken senkte sich herab.

»Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm.«

Philo brachte die vertrauten Worte kaum heraus. Er hatte die Hände zusammengepresst und betete im Stillen ganz anders. Aber sein Gebet hätte der Bettler nicht verstanden.

Der Bettler verdiente während der ganzen nächsten Woche viel Geld, indem er Menschen zu den Blutflecken führte und mit beiden Händen erzählte, wie er sie gefunden hatte. Schon nach einem Tag kam Philo in der Erzählung nicht mehr vor.