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Es war ja leicht festzustellen, ob Christoph noch lebte. Aber das Viertel der Juden war weit weg, genau am anderen Ende der Stadt, hinter dem Münster. Er hätte hinrennen können, aber in der Zwischenzeit gingen hier vielleicht wichtige Spuren verloren. Und – es konnte nicht Christoph sein! Je mehr er nach dem ersten Schreck nachdachte, desto sicherer wurde er. Aber was bedeutete das alles? Und wenn er es doch war?

Stadtsoldaten kamen wie vor einigen Wochen in einer Kette die Ill herauf. Sie stocherten mit ihren Spießen in der Böschung zwischen Mädesüß und Blutweiderich und scheuchten die Ratten in wimmelnden Schwärmen auf.

»Wo ist der Tote? Kann man ihn sehen?« Philo sah jetzt nicht mehr wie ein Bettler aus. Er war in seinem Gewölbe gewesen und sah aus wie der Sohn eines kleinen Handwerkers, eines der vielen Flickschuster, die illabwärts wohnten.

»Weshalb?« Der dicke Stadtsoldat stieß mit seinem Spieß einen Stein in den Fluss.

Philo schluchzte herzzerbrechend, dicke Tränen liefen ihm über die Backen: »Es ist vielleicht mein großer Bruder. Er war betrunken und er ist seit gestern nicht mehr nach Hause gekommen. Wir suchen ihn alle.« Er merkte, dass er nun wirklich weinte.

»Wir haben ihn nicht gesehen, sie haben ihn weggebracht.« Dem Soldaten war Philo sichtlich lästig. »Wir müssen hier nach Spuren suchen.« Er schaute kaum auf. »Aber wir haben eine Beschreibung von ihm: Er ist groß, dünn und hat schwarze buschige Haare und blaue Augen. Das sieht man nicht oft. Na, ist er es?«, fragte er gleichgültig –

»Weißt du genau, dass der Tote so aussieht?«

Der Soldat fuhr hoch: »Na, du musst doch wissen, wie dein Bruder aussieht. Ist er es oder ist er es nicht?«

So kam er nicht weiter.

Er musste den Fischer suchen, der den Toten gefunden hatte. Am besten stellte man sich dumm. Die Fragerei, das merkte er, konnte gefährlich werden.

Er musste wieder auf die andere Seite der Ill und weit hinunter an das Ende der Stadt in den Fischerstaden. Unterwegs überlegte er fieberhaft: Wenn es sich bei dem Toten um Christoph handelte – besser nicht daran denken. Wenn er es aber nicht war, weshalb gaben dann alle dem Ermordeten Christophs Beschreibung? – Wer hatte denn ein Interesse zu verbreiten, dass Christoph tot war? – Seine Verfolger doch am allerwenigsten! Sie wollten ja, dass man ihn fand, deshalb hatten sie ja das Blutgeld ausgesetzt! Vielleicht war er es doch –

Er rannte über die kleinen Stege zwischen den Mühlen und dem Viertel der Gerber. Dort drüben, er sah es aus den Augenwinkeln, neigte sich krumm und grau ihre erste Behausung über das Wasser – der erste Ermordete war unmittelbar in ihrer Nähe gefunden worden. Der erste Mord bekam ein ganz anderes Gesicht.

Panik stieg in ihm hoch, er erstickte fast – er rannte und rannte.

In das Judenviertel! Vorbei an der Thomaskirche, vorbei am Münster, die Spießgasse hoch –

Eine Magd, die er nicht kannte, öffnete.

Er dürfe nicht hereinkommen, sagte sie und wirkte verlegen. Philo hielt sich keuchend am Türpfosten fest. »Und Christoph, kann er herauskommen?«

»Nicht da – « Sie schaute an ihm vorbei.

Er drückte sie auf die Seite und rannte hinein.

»Weißt du, dass du heute Nacht ermordet worden bist?«

Es war Christoph, er war es wirklich und leibhaftig und wie immer.

Nachum kam, Esther schaute aus ihrem Zimmer und riss die Augen weit auf, als Philo alles berichtete.

»Zwei Tote in den letzten vier Wochen, beide in die Ill geworfen! Beide nicht weit von unserer ersten Behausung«, schloss Philo mit ungewöhnlich leiser Stimme.

»Zufall oder kein Zufall?«, fragte Christoph.

»Es gibt keinen Zufall, nicht einmal bei euch Christen«, sagte Nachum mit Nachdruck.

»Darum geht es nicht«, erwiderte Christoph.

»Es geht darum, ob zwischen den beiden Morden ein Zusammenhang besteht.« Philo hielt seine Bälle in der Hand. »Man müsste wissen, wer den Leuten die falsche Beschreibung des Toten gegeben hat. Bis jetzt hatte ich noch keine Möglichkeit, das herauszufinden.«

»Die Wahrheit liegt im Fischerviertel und du wirst hinmüssen. Schade, dass ich nicht mitkann.«

»Du kannst nicht, denn du siehst noch genauso aus wie vor deiner Ermordung«, grinste Philo schon wieder.

»Deshalb musst du hier bleiben«, sagte Esther mit fast bittender Stimme, »aber wir könnten doch mit, sechs Augen sehen mehr als zwei.«

»Und ein einziges Hirn weiß, dass heute Sabbat ist und wir nicht so weit gehen dürfen, aber wer weiß, ob du überhaupt ein Hirn hast!«

Jetzt war das seltsame Verhalten der Magd geklärt. Sabbat –

Juden durften nicht arbeiten, sogar die Anzahl der Schritte war festgelegt. Die Magd war Christin, sie kochte das Essen an diesem Tag und sie war verlegen, da sie immer öfter beschimpft wurde, weil sie bei Juden arbeitete.

Philo ging wieder das Illufer aufwärts. Zuerst wollte er noch einmal zu der Stelle, an der dieser geheimnisvolle Tote gefunden worden war. Dort konnte er am ehesten einen Zeugen finden.

Erst fühlte er sich wie neugeboren. Dann sagte er sich, dass es keinen Grund gab, sich übermäßig zu freuen. Die Morde hingen gefährlich eng mit Christoph zusammen – so rätselhaft dieser Zusammenhang auch war. Morde waren selten in Straßburg. Zwar gab es gelegentlich Tote bei Schlägereien, gerade unter Bettlern. Aber das geschah fast immer in aller Öffentlichkeit. Natürlich fand man hin und wieder Tote in den Gassen der Stadt. Aber konnte es Zufall sein, dass innerhalb weniger Wochen gleich zwei Ermordete in ihrer Nähe in der Ill schwammen? – Und einer der beiden wurde so beschrieben wie Christoph!

Er ging langsamer.

Der Stelzenklaus! Wenn der Stelzenklaus einen Bettler umgebracht hätte – es wäre ja nicht der erste – und sich das Blutgeld für Christoph holen wollte, dann müsste er das Opfer wie Christoph beschreiben! Und die Bettler konnte er leicht unter Druck setzen.

Nun, für Christoph wäre diese Entwicklung sehr gut. Den Verfolgern gälte er damit als tot! Philo war stehen geblieben und ließ seine Bälle in der Luft tanzen.

Stelzenklaus war der Mörder – es konnte gar kein anderer sein. Es gab einen Sinn. Es war alles klar.

Viele Männer, den hohen Stiefeln nach Fischer, standen mit den Händen fuchtelnd am Ufer bei dem Pfahl, an dem der Tote angeschwemmt worden war. Auch einige Jungen jeden Alters standen dabei. Philo stellte sich dazu.

»Es ist eine Sauerei, Menschen umbringen und ins Wasser werfen.«

»Erwischen sollte man den Kerl und an den Galgen mit ihm.«

»Ersäufen im Käfig an der Schindbrücke!«

»Das sind diese Bettler.«

»Eine Landplage. Das ganze Ufer der Ill ist voller Bettler. Sie sind auch nachts da.«

»Die hocken herum wie Ungeziefer!«

»Neulich hat doch tatsächlich einer an meinen Netzen herumgemacht.«

»Sie gehen an die Reusen und stehlen die Aale.«

»Sie geben zu viele Bettelbriefe aus. Der Rat ist zu gutmütig mit dem Gesindel. Man müsste viel härter durchgreifen.«

»Rausschmeißen das Pack, gleich ob mit oder ohne Bettelbrief!«

»Wer hat den Toten denn gesehen?«, meldete sich jetzt Philo zu Wort. Vielleicht konnte man vom Opfer auf den Täter schließen und den Stelzenklaus überführen.

Die Männer redeten durcheinander.

Ein Junge, etwas jünger als Philo, sagte mit krächzender Stimme: »Ich habe ihn gesehen.«

An ihn wandte sich Philo: »Wie sah er denn aus, hast du ihn wirklich gesehen?«

»Wie eine Leiche eben aussieht, die du aus dem Wasser ziehst. Patschnass – kein schöner Anblick, kann ich dir sagen.«

»Ich meine, wie sah er aus? Ich meine, als er noch gelebt hat. Du hast ihn doch gesehen.«