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Der Vater murmelte und wurde immer unverständlicher: »Den Richtern, den Kaufleuten, denen, die mich verfolgen, habe ich sie gesagt. Es sind zwei in Stuttgart, vielleicht auch vier, drei in Straßburg, wenigstens drei. Hast du gesehen, wie sie erschrocken sind: Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – fünfundsiebzig – fünfzehn – «

Der Vater taumelte, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er stolperte. Christoph fing ihn auf. Es regnete.

Über die Wälder um die Glems rauschte der Regen, als es dunkel wurde. Die beiden Schafhirten, die vor einer Lehmhütte Feuer gemacht hatten und sich die Hände wärmten, sahen durch den Regen im letzten Dämmerlicht zwei Gestalten aus dem Wald kommen, eine größere und eine kleinere. Der Ältere musste gestützt werden, er wankte hin und her; der Kleinere hatte Mühe ihn vor dem Fallen zu bewahren. Die Hunde, die sie umschnoberten, beachteten sie nicht. Der Ältere ging in Lumpen, der Junge hatte eine seltsam reiche Kleidung an. Beide waren vollkommen durchnässt.

»Lasst uns die Nacht am Feuer verbringen, wir erfrieren sonst. Bitte!« Der Junge hatte eine auffallend helle Stimme.

Die Männer rührten sich nicht.

»Und vielleicht habt ihr ein Stück Brot für meinen Vater und auch für mich.«

»Wie ein Bettler siehst du nicht aus.«

»Bitte. Wir haben Hunger und wir frieren. Um Jesu Christi willen!«

Der jüngere Schafhirt, den der andere Hetz nannte, trat rasch heran, blieb aber in einem gewissen Abstand stehen. »Du«, sagte er zu dem Alten, »du, zieh deinen Umhang aus und lass uns deine Arme sehen.«

»Lass uns an das Feuer«, sagte der Junge.

»Hörst du nicht!«

Der alte Mann richtete sich auf, wobei sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. Er sagte nichts, hielt aber die Enden seines Umhangs krampfhaft auf der Brust zusammen.

Der Regen rauschte, das Feuer qualmte.

»Heute haben sie zwei aus der Stadt gewiesen«, sagte Hetz. »Zeig deine Arme!«

»Lass sie, sie haben Hunger und sind nass und frieren«, brummte der ältere Hirte.

»Und dann kommen wir in etwas hinein. Die haben Gewichte gefälscht! Der Matze hat es gesagt, der ist heute aus der Stadt heraufgekommen. Zeig deine Arme!«

Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt trat an das Feuer, krumm, hinkend und so langsam, dass es fast feierlich aussah. Umständlich öffnete er seinen Umhang, zog den Strick, der sein Hemd zusammenhielt, auseinander, dass es herabfiel und den Blick auf den Oberkörper freigab. Er hob die Arme sehr sehr langsam ein kleines Stück an.

Christoph schrie laut auf, die beiden Hirten hatten die Augen aufgerissen: Im Schein des Feuers waren Achseln und Schultern unförmig blaurot verschwollen, schwarz und dick stand es in den Achselhöhlen, eine braune Blutbahn zog sich zum Bauch hinunter.

Schweigen.

»Aufgezogen haben sie dich«, sagte Hetz langsam, »die Arme auf den Rücken gebunden und dann hochgezogen, erster Grad, dann ein Gewicht an die Füße gehängt, zweiter Grad, dann schwereres Gewicht, dritter Grad – «

Christoph stand und starrte noch immer.

Der ältere Hirte sagte mit unsicherer Stimme: »Setzt euch an das Feuer. Hier unter das Vordach, da kann der Wind den Regen nicht so hinwehen.«

Hetz stand auf: »Aber das sage ich euch, was ihr esst, wird bezahlt! Dass das klar ist.«

»Lass sie zufrieden. Die haben doch kein Geld!« Die beiden bekamen zu essen und zu trinken. Aber keiner der beiden Hirten berührte sie.

Der Regen rauschte in den Bäumen.

Die Kerzen flackerten in dem kostbaren Zimmer. Man hörte, wie der Regen von den Dächern tropfte. Ein kühler Luftzug war im Raum. Einer der beiden Kaufleute schloss das Fenster.

»Er weiß alles und er lebt!«

»Er lebt als Gerichteter, als Geächteter. Er kann uns nicht mehr schaden als ein Toter.«

»In diesem Fall habe ich auch Angst vor Toten.«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Der Graf.«

»Der weiß nicht, was er tut.«

»Er ist ihm dankbar, weil er ihm vor drei Jahren Geld geliehen hat.«

»Hör zu. Er lebt und wir haben versprochen, dass er sterben wird.«

Ganz nah hörte man eine Glocke von der Stuttgarter Stiftskirche läuten.

»Du wirst doch nicht – «

»Wir haben versprochen, dass er stirbt. Und als wir das versprochen haben, wussten wir noch nicht einmal, was er wirklich wusste.«

»Wir hatten nur den Verdacht.«

»Jetzt wissen wir es genau, er hat die Zahlen gesagt, er hat sie uns zugerufen. Unser Schlag muss überraschend erfolgen. Also?«

»Ja, wenn es nicht anders geht.«

»Es geht nicht anders.«

»Du weißt, wovon du redest?«

»Du weißt, dass du es nicht selbst machen musst.«

»Ja dann – und wo? Wo sind sie hingegangen?«

»Du weißt es.«

Stille.

»Wo würdest du hingehen? Er kennt die Zahlen.«

»Ja, du hast Recht.«

»Halt! Wir müssen alle beide –!«

»Er ist doch aber noch ein Kind.«

»Aber er weiß. Der Vater sagt es ihm.«

»Also beide.«

Der Nebel hing in den silbernen Spinnennetzen und in den gelben Bäumen.

Der Alte schien sich in der Nacht etwas erholt zu haben, er wirkte lebendiger als am Abend. Dennoch war jede Bewegung sehr mühsam. Aber sein Gesicht war nicht mehr so bleich und steinern. »Könnt ihr uns etwas mitgeben für den Tag, etwas Brot und vielleicht auch etwas Käse?« Die Stimme zitterte.

Nur Hetz war da. »Wie wär’s denn mit einer gebratenen Gans für die Herren oder mit einer Bratwurst? Darf es auch ein Schluck Wein sein? – Oder wie wär’s mit einer Pastete? Das seid ihr Herren doch gewohnt.«

»Man soll Unglück nicht verhöhnen!«

»Des einen Unglück ist des anderen Glück: Ihr werdet bezahlen für Speis und Trank, für jeden Brotkrümel, meine Herren.«

»Wir können nicht bezahlen.«

»Aber sicher doch. Was hat denn das Söhnchen da für ein hübsches Wämschen an. So eines wollte ich schon lange haben.«

Der Alte richtete sich auf. Christoph; dem das Blut ins Gesicht geschossen war, und der bereits abschätzte, ob er mit dem Hirten fertig werden konnte, staunte: Es war fast so, als wäre der Vater heil und unversehrt.

»Gut, dann machen wir einen Handel«, sagte der mit fester Stimme und ging auf den Hirten zu, wobei sich sein Gesicht etwas verzog, »das Wams wird dir kaum passen!« Der zottige Hund knurrte.

»Passen oder nicht, meinst du, ich hüte darin die Schafe? Das wird so schnell wie möglich verkauft und läuft durch die Gurgel. Her damit! Er kann mein altes Zeug dafür haben.«

Immerhin schlug der alte Kaufmann noch einen Laib Brot, ein Stück Käse und ein Säckchen mit Hafer heraus. Und als Hetz verschwunden war, stellte Christoph fest, dass er die Schuhe behalten hatte.

»Jetzt sind wir wirkliche Bettler«, sagte der Vater.

Wieder ging er nur sehr langsam weiter.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Christoph zögernd, der in der Nacht am Feuer sehr unruhig geschlafen hatte. Einmal hatte er sich aufgerichtet und die vom Feuer beleuchteten Bäume gesehen. Er hatte sich lange nicht zurechtgefunden. Noch nie in seinem Leben war er in der Nacht im Freien gewesen. Nachts sollten die bösen Geister unterwegs sein. Der Regen hatte aufgehört, er sah über sich den Sternenhimmel. Die Glut des Feuers wärmte, seine Kleider waren fast trocken.

Dann hatte er den Vater sitzen sehen. Unbeweglich, den Blick hinaufgerichtet zu den Sternen. Seine Lippen bewegten sich. Aber es gab doch Hoffnung! Er hatte sich vorgenommen den Vater gründlich auszufragen. Wenn der nur nicht wieder so seltsam war.

Auch jetzt schien der Vater irgendwie entrückt: »Die Zahlen, wir folgen einfach den Zahlen.«

Christoph wurde es unheimlich. War der Vater krank? Hatte die Folter ihm den Verstand genommen? Er hatte schon davon gehört, dass Leute unter der Folter den Verstand verloren hatten. Was sollten diese Zahlen? Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Die Hoffnung von gestern erschien ihm auf einmal fern und sinnlos.