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»Und wie kann man sie dennoch herausziehen?«

»Man muss sich die Ohren mit Wachs verstopfen wie einst Odysseus bei den Sirenen.«

Christoph kannte diesen Odysseus nicht.

»Wenn man die Wurzel hat, kann man sie teuer verkaufen.«

»Was kann man mit der Wurzel machen, zaubern?«, fragte Christoph und beugte sich vor.

»Manche glauben, sie sei die Springwurz, die alle Schlösser aufmachen können soll, was ich nicht glaube.«

»Das wäre doch nicht schlecht«, meinte Philo.

»Untersteh dich!«, warnte Regine.

»Ob sie gegen die Pest hilft, konnte man bis jetzt sicher noch nicht ausprobieren. Man kennt die Pest ja erst ein oder zwei Jahre. Sie soll aber gegen jede Krankheit helfen.«

»Dann wäre sie ja auch gut gegen die Pest!«

»Und warum haben wir dann diese Wurzel Mandragora noch nicht?« Nachum war aufgeregt, Esther hatte leuchtende Augen.

Christoph fragte: »Sie wächst doch unter dem Galgen. Warum holen wir sie dann nicht heute Nacht?«

»Ich gehe mit«, sagte Esther mutig und hatte den Blick auf Christoph gerichtet.

»Du kannst sie nicht immer holen. Der Mond muss eine bestimmte Phase haben, die Sonne muss in einem bestimmten Haus stehen. Das alles dürfte heute Nacht nicht zutreffen«, schmunzelte Löb.

»Wann dann«, fragte Nachum und hatte den Blick auf Esther gerichtet, »und hilft sie auch gegen Christen?«

»Nachum!«, wies Löb ihn mit scharfer Stimme zurecht.

»Aber irgendwann kann man sie holen. Das machen wir«, sagte Christoph.

Löb war aufgestanden und hatte ein dickes Buch von einem verzierten Bord genommen. Die Seiten waren von hebräischen Schriftzeichen bedeckt.

Christoph staunte: Wie viele Bücher hatte Löb!

Löb las vor: »Dieselbige Wurzel ist feuerfarb und schwer auszugraben. Wenn sie jemand anrührt, so ist er gleich des Todes Eigen. Man muss sie ganz umgraben und nur ein wenig von unten in dem Erdreich stecken lassen. Danach einen Hund daran binden, und wenn der Hund demjenigen, der ihn daran gebunden hat, nachlaufen will, so zieht er die Wurzel heraus, stirbt aber alsbald davon, so wird er für den Menschen, der die Wurzel umgraben hat, ein Opfer. Das hat Josephus Flavius vor zwölfhundert Jahren geschrieben.«

Löb lächelte immer noch: »Wir können sie schon holen. Aber es ist eine weite Reise, viel weiter als zum nächsten Galgen. Ich weiß, wo die Wurzel wächst. Ich habe sie sogar schon oft wachsen sehen.«

»Und nicht geholt?«, schrien Esther, Christoph und Nachum.

»Nicht geholt.«

»Warum denn nicht? Hast du Angst gehabt?«

»Wo habt Ihr sie denn gesehen?«, fragte Regine.

»Nicht unter dem Galgen, sie wächst ganz normal an trockenen Berghängen in Italien. Ihre Blätter erinnern etwas an Rübenkraut. Ich habe zugeschaut, wie die Leute sie herausgemacht haben.«

»Und du bist nicht gestorben?« Esther hatte alle Finger im Mund.

»Ich bin nicht gestorben, du kannst es sehen.«

»Und wie – wie war das Schreien?«, fragte Esther atemlos.

»Es hat nicht geschrien, denk dir. Es war alles ganz still.«

»Vielleicht waren es gar nicht die richtigen Wurzeln – es waren gar keine echten Mandragora.«

»Doch, doch. Jedenfalls wurden sie von den Händlern aufgekauft und weggeschafft. Es waren wirklich Mandragorawurzeln: Ich habe sie in der Hand gehalten und mir genau angeschaut.«

»Es ist alles nur Gerede?« Philo begann einen Ball hochzuwerfen.

Wieder war Löb aufgestanden und hatte ein anderes Buch geholt: »Hier ist sie abgebildet, die Mandragora, euere Wurzel Alraune. Ihr könnt mir schon glauben.«

Sie starrten atemlos hinein: Wieder war die Schrift hebräisch. Ein Kraut war gemalt mit dicken, adrigen Rübenblättern und einer Wurzel, die sich spaltete und aussah, als würde ein Mensch die Beine kreuzen. Aus diesen Beinen wuchsen Haare heraus, die wie Menschenhaare aussahen.

»Ich habe sie bei Padua gesehen, sie wächst aber vor allem in Apulien am Berg Galgano oder Gargano, das mag der Sage vom Galgen Nahrung gegeben haben.«

»Also kein wirkliches Mittel gegen die Pest.« Esther sagte es traurig.

»Ich fürchte, es gibt so leicht kein Mittel gegen die Pest«, antwortete Löb.

»Dann sollte man den Betrügern aber gründlich das Handwerk legen«, sagte Nachum wütend.

»Ob die echte Mandragora gegen die Pest hilft, kann sicher kein Mensch sagen, sie muss ja schon nützlich sein, wenn das Wissen um sie so alt ist«, mahnte Löb, »aber diese nachgemachten, von denen Regine erzählt hat, helfen sicher nichts. Ich weiß übrigens, wie man sie macht: Man schnitzt die Figur, die ihr gesehen habt, aus einer Rohrwurzel, bohrt kleine Löchlein hinein und steckt in diese Löcher Gerstensamen. Das Ganze pflanzt man in heißen Sand, sodass die Gerste schnell keimt und ihre Wurzelfasern zu den Löchern herausstreckt – «

»Und das sind dann die Haare der Mandragora«, ergänzte Philo. »Das hilft freilich gegen keine Krankheit.«

»Nur diesem dicken Herrn mit seinen Knopfaugen. Dem helfen sie schon: Den machen sie reich!«, schloss Regine lachend.

»He, sagtest du dicker Herr und Knopfaugen? Ist das so ein rundlicher, kleinerer Kerl mit aufdringlicher Kleidung?«, fragte Philo aufgeregt.

»Klein, rundlich, würde ich sagen, und mit vorstehenden Augen, fast so wie bei einem Frosch«, nickte Regine.

Philo, Christoph und Esther tanzten in der Stube herum.

Die Tage wurden kürzer. Ein weißes Licht lag in der Luft. Abends verschwammen die Gassen im Dunst. Die Bauern brachten Obst und Nüsse auf die Märkte der Stadt. Ein Geruch nach fauligen Äpfeln und gärendem Saft erfüllte die Gassen. Die Straßen und Plätze wurden schmierig. Der Gestank des Gerberviertels drang zwischen die Häuser. Die ersten Blätter wurden gelb.

Zwei große Feste standen bevor und Esther und Nachum redeten von Rosch ha Schana und Jom Kippur.

»Kennst du nicht«, sagte Nachum, »Rosch ha Schana heißt Neujahr. Das und Jom Kippur sind unsere größten Feste.«

»Das schönste Fest ist aber das Chanukkafest«, Esther lächelte Christoph an, »es ist nicht mehr lange bis dahin, wenn erst einmal Rosch ha Schana und Jom Kippur waren.«

»Erst kommt Rosch ha Schana, das Neujahrsfest«, sagte Nachum streng. »Wir haben jetzt das Jahr fünftausendeinhundertneun und in wenigen Tagen werden wir das Jahr fünftausendeinhundertzehn haben. Es ist die Zahl der Jahre nach der Erschaffung der Welt.«

»Wir rechnen die Zahl der Jahre nach der Geburt des Heilands«, sagte Christoph unbekümmert; »heute ist das Jahr dreizehnhundertachtundvierzig. Nach unserem Neujahrsbeginn am Weihnachtstag wird das Jahr des Heils dreizehnhundertneunundvierzig sein.«

»Die Erschaffung der Welt ist wichtiger als euer Heiland.« Nachum rümpfte die Nase.

Esther sah Christoph lange und flehend an. Dann sagte sie: »An unserem Neujahrsfest tauchen wir Äpfel in Honig und schenken sie einander, damit das neue Jahr süß wird. Und einen Tag nach Jom Kippur bauen wir die Laubhütten für das Laubhüttenfest, darin wohnen wir dann zusammen.« Ihre Stimme zitterte etwas.

Nachum sagte laut und fest: »Rosch ha Schana ist die Zeit des Gerichts. Drei Bücher werden an diesem Tag geöffnet: In das Buch des Lebens werden die Gerechten eingeschrieben, in das Buch des Todes die Gottlosen.« Er verzog den Mund. »In das dritte kommen die Mittelmäßigen.«

»Zehn Tage«, sagte Esther leise, »haben die Ungerechten Zeit durch Reue ihr Schicksal zu wenden. Bis zum Jom Kippur Tag, dem Tag der Versöhnung.«

Sie schaute Christoph eindringlich ins Gesicht, dann ging sie schnell hinaus.

Nachum redete weiter: »Zwei Tage feiern wir Rosch ha Schana. Es beginnt damit, dass in das Schofar, ein Widderhorn, geblasen wird. Damit wird zur Umkehr ermahnt. So etwas gibt es bei euch Christen nicht.«

»Doch«, sagte Christoph, »wir können auch zu Gott umkehren, wenn wir gesündigt haben.«