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Es dämmerte Christoph erst langsam, warum Esther so schnell gegangen war. Er lag noch lange wach.

Wir gehören zusammen, etwas anderes wollte er nicht denken. Jude sein. So einfach ist das nicht. Er wälzte sich hin und her. Jeder Mensch hat seinen Glauben! Schon als Kind war ihm der Glaube an Jesus Christus den Erlöser gelehrt worden. Chanukka – im Dezember war Weihnachten. Wie konnte man nicht Weihnachten feiern?

Er wollte nicht daran denken. An Esther wollte er denken. Die Mutter hatte Pfefferkuchen gemacht an Weihnachten. Äpfel und Nüsse gab es und Backpflaumen, der Vater hatte einmal für jeden eine gedörrte Feige gebracht. Er starrte in die Dunkelheit. Wenn er sich bewegte, knisterte das Stroh, auf dem er lag. Die Decken waren weich, mit denen er sich zudeckte, der Strohsack, auf dem er lag, war hart.

Esther. Er wollte sich ihr Gesicht vorstellen, wie sie lachte. Er wollte ihren Kuss auf seinen Lippen spüren, aber er sah nur die Schwärze der Nacht. An Esther denken. Er drückte die Bettdecke an sich. Esther – es gab nur eins: Esther. Nichts denken, nicht daran rühren.

Der alte Abraham strich Esther über die Haare.

»Du hast nicht recht gehandelt, und das weißt du. Sonst wärst du nicht zu mir gekommen.«

»Ich habe doch noch gar nichts gesagt. Woher weißt du?«

»Liebes Kind – ich müsste blind sein. Ich müsste taub sein. Ich müsste ein fühlloser Stein sein, wenn ich nicht schon längst wüsste, was mit meinem liebsten Töchterchen geschehen ist.«

Sie drückte ihr Gesicht in die Falten seines dunklen Samtgewandes und sprach fast unhörbar: »Ich liebe ihn. Ich kann nichts dagegen tun. Was soll ich denn machen, wenn es unrecht ist?«

»Wer sagt denn, dass es unrecht ist?«

»Du, Großväterchen, du hast gerade gesagt, dass ich nicht recht gehandelt habe.«

»Liebes Kind. Liebe kann nie unrecht sein. Das musst du dir merken. Sie kommt von Gott und ist das kostbarste Kleinod, das er den Menschen geschenkt hat. Wie kann sie da unrecht sein?«

»Ach, du weißt doch. Quäl mich doch nicht.«

»Wie kann ich dich quälen? – Es kann doch nicht wehtun, wenn ich meinem Enkelmädchen sage, dass ihre Liebe niemals unrecht ist.«

»Aber etwas ist doch unrecht, du hast es doch gesagt!«

»Es ist unrecht, wie du mit Christoph umgehst.«

»Wieso? Wie gehe ich denn –?«

Abraham strich ihr sanft über das Haar: »Du hast zu Christoph gesagt, er müsse Jude werden, und dann wollt ihr heiraten. Du hast ihm die bevorstehenden Festtage erklärt und von den drei Büchern gesprochen und vom Gericht und von Reue und von Jom Kippur, von Versöhnung und von Chanukka – «

Esther hob den Kopf: »Du hast gelauscht – das tut man nicht.«

»Wie kann ich lauschen, mein liebes Kind, wenn ich mich nicht von der Stelle bewegt habe? – Muss ich dir Zeugen benennen?«

»Aber woher –?«

»Weil ich mein Mädchen kenne. Ich habe ja ein halbes Jahr Zeit gehabt, um mein Enkelkind kennen zu lernen. Und du bist mir das Licht in der Vertreibung geworden, der Honigapfel, den du mir an Rosch ha Schana schenken wirst für die Süße des nächsten Jahres. Aber du musst nicht weinen.«

»Was soll ich denn machen?«, schluchzte sie. »Er ist doch kein Jude. Aber er muss doch einer sein – «

»Und das hast du einfach so zu ihm gesagt? Und alles andere auch?«

»Ja, aber was denn dann?«

»Er ist von unserer Hilfe abhängig. Also ist er nicht frei. Wir retten ihm das Leben, also muss er uns dankbar sein. Er isst unser Brot und schläft in unserem Bett. Er ist in allem nicht frei. Willst du, dass er unter diesem Druck etwas so Wichtiges wie den Glauben wechseln soll, ohne es wirklich zu wollen?« Er hatte ihr gleichmäßig die Wange gestreichelt.

»Nein, das ist unrecht. Du hast Recht.«

»Dabei habe ich den stärksten Zwang noch weggelassen.«

»Was denn?«

»Die Liebe. Er liebt dich nämlich. Ich weiß es.«

»Heute hätte ich fast Zweifel bekommen«, sie redete schnell weiter, »aber nicht wirkliche Zweifel«, sie verbarg ihr Gesicht, »du glaubst mir doch, Seidele! Aber er redete so, als würde es mich gar nicht geben, als er von seinem Heiland sprach und von der christlichen Zeitrechnung.«

»Deine Wangen glühen ja. Willst du, dass dein Geliebter ein Zweig im Wind ist?«

»Aber was denn dann?«

»Was zusammengehört, muss erst zusammenkommen. Dann darf nichts euch trennen – nicht einmal Nachum.« Er lächelte. »Dein Geliebter, mein liebes Kindchen, braucht Zeit. Er muss frei werden von dem fürchterlichen Zwang, der auf ihm liegt, ich meine die Bedrohung durch die Verbrecher. Erst dann kann er frei werden von dem Zwang, den wir auf ihn legen mussten, um ihn zu retten.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin sollte auch der Zwang, den deine Liebe auslöst, ihn nicht zu sehr einengen. Sei lieb zu ihm, das fällt dir leicht. Sei wirklich lieb zu ihm, Kind, und das ist sehr, sehr schwer. Ich weiß, dass es fast unmöglich ist. Aber ich weiß, dass du klug bist und stark im Herzen, wie es Esther war, die wir am Purimfest feiern, an dem dein Christoph zu uns gekommen ist.«

»Ach, Seidele, du bist so gut.«

»Ich werde mit deinem Vater reden. Aber ich bin sicher, dass er schon längst alles weiß und so denkt wie ich. Und du musst mit Christoph reden. Aber so, wie es die wirkliche Liebe verlangt, die freie Menschen will, und nicht so, wie du mit ihm geredet hast.«

Die beiden höchsten jüdischen Festtage waren vorüber.

Löb hatte mit Esther geredet und Esther hatte mit Christoph geredet. Viel Zeit musste ins Land gehen. Das wussten sie. Inzwischen durften sie sich zwar sehen wie sonst, aber nicht allein miteinander sein.

Esther dachte an das, was ihr der alte Abraham gesagt hatte.

Es war schwer für Christoph, aber er fühlte ihre Liebe in jedem Blick.

Philo und Christoph fuhren mit den zwei Fähren über den Rhein und gingen nach Offenburg. Christoph war nicht mehr so gefährdet, seitdem er als tot galt. Dennoch hatte ihm Esther ein Tuch um die Haare gewunden.

Sie gingen als Lehrjungen – nicht als Bettler.

Nachum musste zu Hause bleiben, worüber er schimpfte.

»Zwei fallen weniger auf«, so hatte es Löb bestimmt.

Der alte Abraham hatte sie gesegnet.

Christoph holte tief Luft, als er aus dem Hause in das Viertel der Juden trat.

Aber der Himmel war hell, die Bäume hatten bunte Farben angenommen, als sie aus dem Stadttor traten, und leuchteten unter einem strahlend blauen Himmel, als würden sie ihn besonders festlich wieder in der freien Natur begrüßen. Ein frischer Wind wehte.

»Wenn er überhaupt noch in Offenburg ist – «, begann Christoph.

Philo hatte ein dickes Bündel über der Schulter hängen: »Hoffentlich!«

Sie standen im klaren Wind auf der Fähre über der freien Fläche des Rheins, sahen die gelben Auwälder an beiden Ufern, die weißen Kiesbänke und dahinter die blaue Mauer des Schwarzwaldes. Christoph brauchte alle Kraft, um nicht ständig an seinen Vater zu denken.

»Löb hat mir sechs Schillinge mitgegeben, davon könnten wir das schönste Leben führen.«

»Ja, Löb ist großzügig wie selten einer. Du hast unerhörtes Glück gehabt.«

»Ich weiß«, sagte Christoph leise und dachte an Esther.

»Wenn wir den Kerl haben, wird es nicht ungefährlich.«

Die Fähre war gedrängt voller Menschen. Es wurde über die Pest geredet und über die Judenplage.

»Was soll man denn tun?«, fragte Philo harmlos.

»Fortjagen!«, meinte eine dicke Marktfrau, die mit ihren Röcken breit auf einigen Körben saß, als wolle sie die ausbrüten.

»Verbrennen!«, sagte ein Schmied, der einen Sack Kohlen vor sich hielt. »Bei euch in Straßburg sind ja nur Judenfreunde im Rat. Da ist der Herr Dopfschütz samt seiner Freunde, der holt sich Berge von Geld von den Juden, da muss er ihnen ja schöntun! Kannst du dir denken!«