»Man kann doch keinen Zahlen folgen!«
»Man kann, ich kann.«
Der Vater sah Christoph an. Es war, als würde er ihn seit ihrer Ausweisung aus Stuttgart zum ersten Mal wirklich sehen, sein Blick schien zurückzukehren wie aus sehr weiter Ferne. Dann sagte er nach langer Stille: »Christoph, glaubst wenigstens du mir, dass ich unschuldig bin, dass ich die Gewichte nicht gefälscht habe?«
»Ja, aber warum sind wir dann hier, Vater? Warum hat man dich zum Tode verurteilt? Und warum hat man uns ausgewiesen?« Er konnte ein Schluchzen nur schwer unterdrücken.
Der Vater fasste ihn am Arm, wobei er fast nur den Unterarm gebrauchte – die Schulter schien seltsam steif – eine Bewegung, die sehr schmerzhaft sein musste, wie Christoph merken konnte. »Ich weiß es nicht und ich weiß es. Aber ich kann dir nichts Sicheres sagen. Eines weiß ich gewiss, wir sind beide keine Verbrecher. Nicht jeder, den sie verurteilen, ist ein Verbrecher.«
»Aber die Gewichte! Der Waagemeister hat sie doch geprüft – sie waren doch falsch!« Es fiel ihm schwer, den Satz auszusprechen.
»Kind?«, der Vater keuchte und drückte die Hand auf die Brust, aber auch das schien mit großen Schmerzen verbunden, »man kann falsche Gewichte unterschieben. Man kann nachts in mein Warengewölbe einsteigen, man kann die Kästen mit den Gewichtssätzen öffnen und kann die Gewichte vertauschen. Das alles kann man.« Die Stimme des Vaters klang gepresst, als bereite ihm auch das Sprechen große Qualen.
»Und dann zuschauen, wie sie einem alles wegnehmen, wie sie dich zum Tode verurteilen, wie sie uns aus der Stadt ausweisen, wer kann das?« Christoph schüttelte es.
Der Vater ging immer langsamer.
Christoph sah, dass seine Arme eigenartig steif an den Körper gelegt waren. »Hat man das alles mit dir gemacht, was der Hetz gesagt hat?«
Der Vater atmete sehr hart beim Gehen, wieder stand ihm Schweiß auf der Stirn. »Es ist wie die Hölle. Man kann sich nicht vorstellen, was die Menschen für Teufel sein können. Damit meine ich nicht den Henker. Der tut seine Pflicht und hat es schwer genug. Ich meine die, welche daneben stehen und sagen: ›Weiter! Noch einen Grad, ein schwereres Gewicht! Noch einen Grad! Gesteh endlich, du Schwein!‹«
Lange Zeit war Stille. Christoph konnte nicht sprechen. Er hatte die Hand vorsichtig auf den Arm des Vaters gelegt, aber der war selbst bei der leichten Berührung zusammengezuckt.
»Sie müssen mir die Gewichte vertauscht haben, als ich noch in Pforzheim war vor ein paar Wochen, nachts, ohne dass es jemand gemerkt hat. Wer konnte sich das auch vorstellen!«
»Aber warum? Warum? Was haben sie davon? – Und wer?«
»Ich weiß wenig, fast gar nichts. Aber ich weiß die Zahlen, und weiß sicher, dass ich wegen ihnen verfolgt werde. Ich habe die Gewissheit erhalten, als ich gestern diese Zahlen gerufen habe, bevor wir zum Richtplatz geführt worden sind. – Ich habe große Schmerzen. Lass uns dort auf den Steinriegel sitzen.«
Christoph musste den Vater wie am Abend stützen, als er sich umständlich und steif und sehr langsam an den Steinhaufen mehr lehnte als setzte.
»Als ich vor zehn Wochen in Straßburg war – mein Gott, das ist ja schon ein ganzes Menschenleben her –, da kam abends ein Bürger, ein einfacher Mann, vielleicht ein Schmied, er hatte rußige Hände, in meine Herberge und wollte mich unter vier Augen sprechen. Ich war aber nicht allein. Ich trank mit einigen Straßburger Geschäftsfreunden Wein und wir redeten über den Handel. Du weißt, dass man in einer solchen Runde die besten Geschäfte machen kann.«
Christoph sah den Vater vor sich, wie er ihn oft gesehen hatte: den stattlichen Kaufmann, den jedermann grüßte in seinem reichen Gewand. Er erinnerte sich noch, wie der Vater damals weggeritten war, begleitet von zwei Knechten, und wie eine Nachbarin gesagt hatte: »Du kannst stolz sein auf deinen Vater, ein prächtiger Mann, er sitzt zu Pferde wie ein Ritter.« Und jetzt –
»Nun, ich wies den Mann ab.«
Der Vater hustete, wobei er die Hand zum Mund führen wollte, es aber vor Schmerz nicht konnte. Auch das Husten musste schrecklich sein. Er war bleich geworden und die Stirn war bedeckt von Schweißtropfen.
»Es war schwer, ihn abzuweisen: Es sei ganz außerordentlich wichtig, wenn ich ihn nicht anhöre, geschehe ein schreckliches Unglück. Er kam mir wirklich sehr ungelegen, ein größeres Geschäft stand unmittelbar vor dem Abschluss – weshalb ich ihn nun mit deutlichen Worten abwies, man kann fast sagen, hinauswarf. Weshalb sollte ich mich stören lassen? Er beschwor mich geradezu, ich solle ihn doch um des Himmels willen anhören, alles Glück der Welt stehe auf dem Spiel. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich auf die Knie geworfen.«
Er hielt erschöpft inne und atmete schwer.
»Und weiter? Was wollte der Mann sagen?«
»Ich weiß es nicht. Aber die Kaufleute in meiner Kammer waren aufmerksam geworden. Als jetzt einer herauskam mit offenem Mund – wie es mir schien, zu Tode erschrocken –, wandte sich der Mann rasch zur Türe. Aber der Kaufmann sprang blitzschnell auf ihn zu und wollte ihm einen Pergamentstreifen, den ich gar nicht bemerkt hatte, aus der Hand reißen. Der fiel zu Boden und ich habe ihn aufgehoben. Sofort wurde er mir aus der Hand gerissen.
Meine Gäste waren wie verwandelt: Das Geschäft, das kurz vor dem Abschluss stand, kam nicht zustande und sie verabschiedeten sich schnell.
Am anderen Tag war ein Essen in der Straßburger Kaufmannsgilde, wo ich schon oft zu Gast war. Ich sage dir: Schlechter ist noch kein Gast behandelt worden. Nun, sie waren höflich. Daran fehlte es nicht. Aber es war eine kalte Höflichkeit, die einem den Atem benahm und den Appetit verdarb. Es ging von wenigen führenden Kaufleuten aus, drei waren aus Straßburg. Zwei waren aus Stuttgart. Und beide haben mich gestern als Richter zum Tode verurteilt.«
»Aber warum das alles? Was war das für ein Schmied? Was war das für ein Pergament, stand etwas darauf?«
»Den Schmied habe ich nicht mehr gesehen. Man drängte auf meine Abreise. Ich habe es zuerst gar nicht bemerkt. Ein Geschäft wurde mir empfohlen auf dem Heimweg in Pforzheim abzuschließen, das sei sehr lohnend, aber eilig. Überflüssig zu sagen, dass da nichts war in Pforzheim.«
»Und der Pergamentstreifen?«
»Den konnte ich lesen, als ich ihn vom Boden aufhob. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für Zahlen, wie jeder Kaufmann, deshalb habe ich mir die Zahlen gemerkt. Es standen auch Wörter dabei, aber ich habe nur auf die Zahlen geachtet.«
»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn.«
»Ja.«
Der Vater atmete schwer.
»Und was bedeuten diese Zahlen?«
»Wenn ich das wüsste. Schade, dass ich die Wörter, die bei den Zahlen standen, nicht gelesen habe, es war eine flüchtige, schwer lesbare Schrift – ich konnte ja nur einen winzigen Blick auf das Pergament werfen. Aber offenbar ist es etwas sehr, sehr Wichtiges und etwas sehr Geheimes, wenn sie dafür nachts gefälschte Gewichte austauschen und Menschen hinrichten lassen.«
»Kann es so etwas überhaupt geben?«
Langes Schweigen.
»Du kannst mir glauben, ich habe mir im Gefängnis den Kopf zermartert, dass ich schier wahnsinnig geworden bin. Aber ich bin keinen Schritt weitergekommen.«
»Zauberei?«
»Weißt du, ich kann nicht so recht glauben an Zauberei. Was könnte es sonst sein? – – Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn.«
Er schwieg wieder lange.
»Mit Zahlen soll man ja zaubern können – «
»Es wird gesagt. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der wirklich zaubern konnte.«
»Werden Zauberer nicht verbrannt? – Es heißt, dass die Templer in Frankreich, die sie vor vierzig Jahren verbrannt haben, hätten zaubern können«, sagte Christoph.