»Bald?«
»Nach fünf Stunden. Vierzehn Grade.«
Herr Schwarber trat zu dem Juden: »Ich, Peter Schwarber, Rat und Kaufmann der freien Reichsstadt Straßburg, frage dich: Bei dem Gott deiner Väter, hast du das Gift in die Brunnen der Stadt Bern geworfen?«
»Ich verwahre mich entschieden dagegen, wie hier in unserem ehrsamen Rat mit der Hilfe einer uns befreundeten Stadt umgegangen wird.« Es war ein dicker Mann mit kostbaren Kleidern, dem aber etwas Mehl am Ärmel hing.
»Herr Bäckermeister Wangenbaum, ich möchte in einer so ernsten Sache nicht – «
»Eben, Herr Schwarber, eben, wenn ich auch nur ein einfacher Bäckermeister bin und Ihr ein großmächtiger Kaufmann, so weiß ich doch, was sich gehört. Da machen die verehrten Ratsmitglieder der Stadt Bern, einer befreundeten Stadt, eine so weite Reise, um uns zu helfen, und Ihr – «
»Es geht nicht um eine weite Reise, es geht um die Frage: Ist es wahr?, Herr Wangenbaum. Es geht um das Leben und die Ehre von vielen Menschen, die unserer Fürsorge anvertraut sind.«
»Eben, Herr Schwarber, eben, es sind uns das Leben und die Ehre der Christen in unserer guten Stadt anvertraut. Ihr müsst blind sein, Herr Schwarber, blind!«
»Die Wahrheit, Herr Wangenbaum – «
»Ja, die Wahrheit, Herr Schwarber, da stehen sechs Mitglieder eines ehrsamen Rates der Stadt Bern und stehen für die Wahrheit ein, und was macht Ihr, Herr Schwarber, Ihr fragt einen überführten und geständigen Juden, Herr Schwarber, ich bitte Euch!«
»Meine Herren, meine Herren, kaltes Blut, ich bitte Sie!«, mischte sich jetzt Herr Dopfschütz ein.
Herr Kropfgans atmete auf.
»Was sagen die Statuten unserer Stadt Straßburg, meine Herren?« Herr Dopfschütz drehte sich um sich selbst und schaute jedem der Ratsherren ins Gesicht. »Ich meine gelesen zu haben, aber bitte, ich kann mich täuschen, dann bitte ich Sie um Nachsicht, meine Herren. Und bitte, Herr Wangenbaum, Ihr wisst, dass ich immer Euer Freund gewesen bin – es soll keine Feindschaft geben zwischen dem Handelsmann und dem Handwerksmann, sage ich immer.«
Herr Kropfgans presste die Hände ineinander.
»Zu den Statuten: Die Statuten unserer lieben und freien Stadt Straßburg sagen, dass nur Geständnisse vor dieses Gericht gebracht werden dürfen, die vor dem Gericht und Rat der Stadt Straßburg gemacht worden sind. Es tut mir Leid, Herr Wangenbaum, Eueren Eifer in Ehren, auch Euch, Ihr Herren aus Bern, bitte ich um Nachsicht, besonders Herrn Einschieß und Herrn Füegli nach ihrer langen Reise. Aber ich bin auf die Statuten der Stadt Straßburg vereidigt und nicht auf die Statuten der schönen, guten und befreundeten Stadt Bern! Und ich meine, das seid auch Ihr, Herr Wangenbaum, so wie jedes Mitglied dieses ehrsamen Rates. Ich glaube nicht, dass wir abstimmen müssen, meine Herren.«
Herr Wangenbaum hatte einen hochroten Kopf.
»Die ehrsamen Vertreter der guten und lieben Stadt Bern lade ich auf meine Kosten zum Essen ein. Ich darf mich empfehlen!«
Herr Kropfgans wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Was wollt Ihr, Löb Baruch?«
»Für den Juden Menli aus Bern bitten, Herr Dopfschütz, und Dank sagen im Namen der ganzen jüdischen Gemeinde Straßburgs für die kräftigen Worte, die Ihr gesprochen habt für uns.«
»Das war nicht ich, das waren die Statuten unserer guten Stadt. Jeder weiß, wie wichtig mir Gesetz und Ordnung sind.«
»Seht, Herr, deshalb möchte ich für den Gefolterten bitten. Die weite Reise hat ihn geschwächt. Er ist krank, Ihr habt ihn gesehen. Ich würde ihn in meinem Hause aufnehmen und für ihn sorgen, bis Weiteres beschlossen ist.«
»Ich sage es ungern, Löb Baruch. Aber auch hier müssen Gesetz und Ordnung herrschen. Der Jude Menli untersteht nicht unserer Gerichtsbarkeit, sondern der Gerichtsbarkeit der Stadt Bern. Ich kann nichts für Euch tun.«
»Eine Ausnahme, Herr Dopfschütz, die Menschlichkeit – «
»Keine Ausnahme, die Statuten lassen keine Ausnahmen zu. Wo kämen wir da hin? Das beweist doch gerade die vergangene Ratsversammlung.«
»Aber Ihr könntet doch die Ratsherren aus Bern bitten – «
»Ich bitte Euch, Löb Baruch, wäre das diplomatisch? Ich sage Euch das sehr ungern, Löb Baruch, vor allem, weil ich viel Geld von Euch gewärtige, sehr viel Geld – ich bekomme es doch nächstens?«
»Ich habe es fast zusammen. Es liegt schon großenteils für Euch bereit. Ihr könnt es in meinem Haus holen. Ich lasse Euch Bescheid sagen.«
»Seht Ihr, da fällt es mir doppelt schwer, Eure Bitte abzuschlagen. Aber nur wegen einem Juden einen diplomatischen Konflikt heraufzubeschwören. Ich bitte Euch, das kann doch Euer Ernst nicht sein. Ich bin auf Eurer Seite, Baruch, das wisst Ihr. Ich habe es vor einer halben Stunde bewiesen. Aber: Es geht nicht!«
Nur wegen einem Juden einen diplomatischen Konflikt – Löb presste die Lippen aufeinander.
»Die Levis sind fort und die Menuchims sind fort und die Mendels sind drauf und dran zu gehen. Wir müssen Straßburg verlassen. Dringend! Elieser hat Recht, Vater, du musst es glauben. Es wird den Juden in Straßburg gehen wie den Juden in Bern und Lausanne.« Nachum stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich gehe mit«, sagte Christoph zornig, der das Bild des Schweinekopfes an der Türe zur Synagoge vor sich sah.
Esther hatte Tränen in den Augen.
Der alte Abraham richtete sich auf: »Wenn ihr gehen wollt und gehen könnt, so geht. Wir sind ja auch aus Aragon gegangen. Aber ich gehe nicht mehr mit. Esther und ich, wir sind einmal geflohen, zu euch. Wir gehen nicht ins Ungewisse. Wir sind alt. Wir erwarten das, was Gott über uns verhängen wird. Aber das soll und darf euch nicht halten.«
»Wir bleiben da«, sagte Löb entschieden, »wir lassen Abraham und die alte Esther nicht allein. Das ist das Erste. Wir können aber auch gar nicht gehen, weil ich geschäftliche Verpflichtungen habe, aus denen ich nicht so schnell herauskann. Das ist das Zweite. Es sind diese geschäftlichen Verpflichtungen, deretwegen ich glaube, dass den Juden in Straßburg überhaupt nichts geschehen wird, nichts geschehen kann. Gehen wir aber, dann entfällt der Grund dafür, dass sie uns nichts tun können. Wenn wir also gehen, kommt die Blutschuld für den Tod der schwächeren Brüder in der Gemeinde auch über mein Haus, und das ist das Dritte!«
»Wer sich taufen lässt, dem tun sie nichts«, sagte Christoph unsicher.
Esther blickte ihn an.
»Wer sich taufen lässt, ist ein Verräter!«, warf Nachum ein und verzog die Lippen.
»Wenn die Juden sich taufen lassen, so ist es das Ende des Judentums. Es geht nicht«, sagte Löb.
Nachum weinte, dass es ihn schüttelte. Aber als ihm Christoph die Hand tröstend auf die Schulter legen wollte, stieß er sie mit blitzenden Augen zurück.
Der Berner Jude Menli starrte ins Leere des Gefängnisses, in das ihn die Straßburger Schergen geworfen hatten. Weit oben gab es ein Eisengitter, durch das ein Lichtstreifen an der Steinwand herabstrich. Er sah es nicht. Er lag auf einem Bund Stroh, auf das man ihn geworfen hatte. Die Kleider waren nur noch Fetzen. Sein Gesicht war von einem wilden Bart verdeckt.
Seine Knöchel waren so angekettet, dass er auf dem Rücken liegen musste. Das war sehr unbequem, weil die Kette für die Knöchel zu kurz war und er mit dem Kopf nicht zur Wand reichte, so lag sein Kopf im Dreck. Auch an den Händen waren Ketten, die ihn an jeder Bequemlichkeit hinderten. Es war bitterkalt und feucht. Aber er spürte nichts mehr von alledem.
Bilder huschten an ihm vorbei wie die Ratten an seinem Essnapf. Er konnte sie nicht festhalten. Da war eine Frau. Er sah sie vor sich, er kannte sie nicht. Er sah, wie sie die Frau packten und wegschleppten. Er wusste nicht, dass er weinte, wenn er das sah. Dann glitten andere Bilder vorüber, er konnte sie nicht begreifen. Er spürte furchtbare Schmerzen in den Armen und Schultern – sie zogen jemand hoch an den Armen, die Beine mit Steinen beschwert. Aber er wusste nicht, dass er selbst der Gefolterte war.