Der Mond war inzwischen untergegangen.
Esther hielt immer noch Nachums Arm. Sie sagte kein Wort. Sie schlugen nicht die Richtung zum Judenviertel ein.
Das Schweigen war für Christoph unerträglich.
Dann sagte Esther: »Wir sollten heimgehen. Du legst den Diamanten zurück. Vater merkt es nicht. Wenn sie uns erwischen – wir sind Juden!«
»Einer von uns ist kein Jude!« Die Stimme von Nachum wurde wieder laut.
»Er gehört zu uns – er hat sich für uns in Gefahr gebracht.«
»Das ist ganz recht, dass er auch einmal in der Gefahr ist, in der wir Juden sind. Jeden Tag!«
»Er ist auch ohne uns jeden Tag in Gefahr.«
Wieder klang die Stimme von Nachum übermütig: »Jetzt besuchen wir Herrn Dopfschütz – er muss uns den Gefangenen herausgeben. Er sagt doch immer, er sei auf unserer Seite.«
Er sprach viel zu laut. Esther hielt ihm dem Mund zu.
»Der schläft doch längst.« Christoph war besorgt.
»Dann wecken wir ihn.«
»Das ist doch sinnlos«, jetzt wurde auch Esther laut, »wir bringen ihn doch dadurch nur gegen die Juden auf. Glaubst du, er ändert seine Meinung ausgerechnet, weil ein jüdischer Lümmel namens Nachum ihn mitten in der Nacht weckt? Er hat schon Vater jede Hilfe für den Gefangenen abgelehnt!«
Vom Münster kamen drei Schläge.
»In einer Viertelstunde ist Mitternacht.«
Welch ein Gewirr von Gassen. Christoph hätte sich hier nicht zurechtgefunden. Nur die Sterne, die man ab und zu über den ernsten Giebeldreiecken der Häuser schimmern sah, gaben ein sehr schwaches Licht.
Ab und zu huschte eine Ratte über ihre Schuhe und Christoph war froh, dass er nicht mehr barfuß durch diesen Dreck waten musste.
Die Gassen wurden breiter.
Licht. Ein Haus stand in der Nacht, da waren alle Fenster hell wie im Märchen.
»Das ist das Haus, von dem ich euch erzählt habe«, flüsterte Christoph, »jetzt leuchtet es wieder aus allen Fenstern wie zur Krönung des Kaisers. Ich möchte wetten, dass kein Mensch zu sehen ist.«
Kein Laut war zu hören. Die drei waren stumm in eine Nische getreten und beobachteten das Haus mit seinen leuchtenden Fenstern.
»Ein wenig wie beim Chanukkafest, wenn alle Lichter brennen«, flüsterte Esther.
Zwölf Schläge zitterten durch die Luft. Christoph zählte sie unwillkürlich mit angehaltenem Atem. Auch andere Uhrenschläge fielen ein, die Thomaskirche, das Rathaus, die Stephanskirche, in deren Nähe sie wohnten, Alt St. Peter und viele andere Glocken der großen Stadt.
Sie waren nicht lange verklungen und die Gefährten traten gerade aus ihrer Nische, da war es plötzlich, als würde die drei ein kurzer Luftstoß treffen. Fast im gleichen Augenblick gab es einen Knall, wie ihn keiner jemals gehört hatte. Sie waren heftig zusammengefahren. Er war laut wie Donner, aber kurz und dumpf, nah und doch sehr fern. Es schien, als habe sich ein ganzes Gewitter in einen einzigen Punkt zusammengezogen. Es schien noch durch die Gassen zu rauschen und bevor man darüber richtig erschrecken konnte, war es schon vorbei.
Esther drückte sich an Christoph.
Nacheinander wurden in dem erleuchteten Haus alle Fenster dunkel und es stand da so schwarz wie alle Häuser.
»Was war das?«
Die einsame Festbeleuchtung hatte Philo schon mindestens dreimal gesehen, einmal zusammen mit Christoph. Das war im Sommer gewesen. Immer kurz vor Mitternacht wurden die Fenster nach und nach hell. Alle Läden standen dann weit offen.
Heute war er fast zu spät gekommen – die Lichter brannten schon. Kaum steckte er hinter einer Mauer, als die Türe im Hof knarrte und drei Männer, begleitet von einem Knecht, zum Hoftor herauskamen. Der Diener trug einen Sack, der offenbar recht schwer war, aber nicht sehr groß. Er trug ihn sehr behutsam, als wäre in dem Sack ein kostbares Gefäß aus Glas oder Kristall. Die vier schlichen durch die Stadt, als wären sie das schlimmste Diebsgesindel, und drei waren der ganzen Kleidung nach, die im Mondlicht zu erkennen war, eindeutig Herren!
Er musste sich fast das Lachen verbeißen, wie er, der Gaukler ohne Heimat, den drei ehrbaren Bürgern und ihrem Diener nachschlich.
Leider konnte er ihre Gesichter nicht erkennen.
Herren und Diener gingen zu einer Pforte in der Stadtmauer nicht weit vom Kronenburger Tor. Sie ließ sich von innen leicht öffnen, aber nicht von außen.
Dann waren sie im Freien. Ein Baum und noch ein Baum und noch einer, rennen auf den Ballen, damit niemand etwas hört auf dem nassen Gras – ein Vorteil der Barfußgänger!
Herren und Diener gingen jetzt unbekümmerter – schauten sich aber immer wieder um. So ging es lange Zeit.
Sie wurden erwartet! Einige dunkle Gestalten standen bei einer kleinen Kapelle bei dem Dorf Kronenburg. Von da schritten sie zu einem niedrigen Turm, der einige Steinwürfe weiter an der Straße Richtung Zabern stand. Der kleine Turm des Froschs? Der Turm stand völlig frei, kein Baum war in seiner Nähe. Das Gras war zu dieser Jahreszeit zu kurz, um Deckung geben zu können, und Philo überlegte fieberhaft, wie er es schaffen könnte, etwas von dem zu hören, was die Gestalten redeten, und vor allem zu erkennen, wer sie waren! Er kauerte unter dem letzten Baum vor der freien Fläche, die den Turm umgab.
Philo sah sich um. Im Mondlicht ahnte man gegen Abend die schwarze Mauer der Vogesen. Nach Morgen hin hatte man einen überraschend guten Blick nach Straßburg hinein. Da! Fast hätte er geschrien: Klar und deutlich hob sich gegen die Schwärze der Stadt das beleuchtete Haus ab. Es waren einige Lichter zu sehen in der großen Stadt, aber das erleuchtete leere Haus war so vollständig sichtbar bis zum untersten Geschoss, dass der Sinn dieser leuchtenden Fenster es sein musste, von dieser höher gelegenen Stelle bei dem kleinen Turm gesehen zu werden. Philo glaubte sich zu erinnern: Waren nicht alle Nächte, in denen das Haus erleuchtet war, solche stillen, klaren Nächte gewesen?
Alle rannten plötzlich auseinander, aber da, wo sie gestanden hatten, sah er einen seltsamen Feuerschein durch das Gras auf den Turm zulaufen. Er richtete sich halb auf, um das Wunder genauer zu sehen.
Dann – eine Säule aus Feuer stieg vor ihm auf.
Eine Welle aus Luft stieß ihn, hart wie Stein – ein Knall, der ihn bis in den Bauch traf. Er spürte den Stamm zittern, an dem er sich festhielt. Steine fielen vom Himmel, als ginge die Welt unter! Am Arm streifte ihn einer. Er war völlig taub, hatte aber einen schrillen Ton in den Ohren.
Der Turm, der gerade noch am Nachthimmel gestanden hatte, war verschwunden. Weg, einfach weg! Er war in die Luft geflogen und dann waren die Steine heruntergefallen, als fiele einem der Himmel auf den Kopf!
Philo zitterte und wartete hinter seinem Baum. Das Schrillen in seinen Ohren ebbte langsam ab. Nach einiger Zeit kamen die Gestalten, die er vor dem Knall gesehen hatte, wieder zum Vorschein. Sie gingen aufgeregt um die Reste des Turms herum.
Er konnte jetzt wieder besser hören, aber er verstand kaum etwas. »Besser als erwartet«, rief jemand.
Einmal hörte er eine dunkle Stimme: »Eindeutig bis in die Stadt – «
Die Lichter in dem leeren Haus waren verschwunden!
BENFELD
In Scharen wanderten die Menschen zu den Resten des kleinen Turmes. In der ganzen Stadt wurde gerätselt, wie ein Turm sich über Nacht in Steinbrocken auflösen konnte. Zudem waren diese Brocken in geheimnisvoller Weise rundum in den Wiesen verstreut gefunden worden. Nur die Fundamente hockten im Boden, darüber waren noch einige kantige Mauerreste.
»Als wären es Riesen gewesen, die mit dem Turm gespielt hätten«, sagte Herr Wangenbaum, »aber das waren keine Riesen! Ist denn niemand aufgefallen, wann der Turm verschwunden ist? Hat denn das wirklich niemand beachtet?«
Und er fuhr fort, als die Zuhörer den Kopf schüttelten: »Es war genau in der Nacht, in der dieser Jude Menli aus Bern in unserem Diebsturm gestorben ist! Hält das jemand für einen Zufall?«