Seine Stimme ging in Flüstern über: »Das sind die Juden, sie haben den Tod dieses sauberen Herrn Menli gerächt.«
Und als jemand einwandte, dass der Tod des Juden doch erst am folgenden Morgen entdeckt worden sei und dass es deshalb kaum Rache gewesen sein konnte, wusste Herr Wangenbaum auch hier eine Antwort: »Zwei Dinge sind sicher: Zunächst hat der Jude Löb Baruch nach der Ratssitzung über den Juden Menli, die für uns und unsere Gäste aus der befreundeten Stadt Bern so schändlich ausgegangen ist, diesen Juden Menli in seine Familie aufnehmen wollen. Einen überführten Verbrecher! Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie er mit dem Judenfreund Dopfschütz darüber gesprochen hat.«
»Die halten doch alle zusammen!«
»Richtig«, fuhr der Bäckermeister fort, »zweitens weiß ich von dem Wächter, der seinen Dienst bei dem Turm hatte«, er machte eine lange Pause und schaute seine Zuhörer an, »dass mitten in der Nacht eine Delegation der jüdischen Gemeinde versucht hat den Wächter zu bestechen und den gefangenen Verbrecher zu befreien, der nicht einmal unserer Stadt gehört!«
»Unglaublich!«
»Der Rat hat es untersucht – und das Schönste, die jüdische Gemeinde streitet alles ab: Der Rabbi weiß von nichts, die Ältesten wissen von nichts! Niemand weiß etwas. Der Wächter muss ein Lügner sein. Und die Christen müssen sich womöglich bei den Juden entschuldigen.«
Es wurde gelacht.
»Ja, lacht nur. Es ist zum Lachen, wie wir uns aufs Kreuz legen lassen; sie haben nämlich Kinder geschickt, um den Wächter zu bestechen und den Juden zu befreien. Kinder!«
»Kinder?«
»Kinder! Der Sinn ist sonnenklar. Sie sagen, dass Kinder eben einfältig seien, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten. So haben sie sich abgesichert für den Fall, dass es schief geht. Und es ist ja auch schief gegangen, zum Glück. Aber das zeigt, wie schlau und verlogen dieses Pack ist.«
»Das wäre eine schöne Schande gewesen vor den Gästen aus Bern.«
»Das Schlimmste aber bedenkt niemand. Der kleine Turm. Sicher ist es nicht schade um ihn. Aber«, er fasste seine Zuhörer wieder scharf ins Auge, »niemand weiß, wie der Turm eigentlich zerstört worden ist. Bedenkt, in einer einzigen Nacht wurde er vollständig abgetragen, wozu man sonst viele Tage oder Wochen braucht, und er wurde nicht nur abgetragen, sondern auch in alle Winde zerstreut. Ihr habt es mit euren eigenen Augen gesehen: Die Trümmer liegen in weitem Umkreis in allen Wiesen. Wer kann das? – Welche Kräfte sind hier am Werk? – Ist es Zauberei?«
Die Leute waren beeindruckt: »Was weiß man denn darüber? – Zauberer muss man verbrennen, das steht schon in der Bibel!«
»Richtig«, stimmte Herr Wangenbaum zu, »ich sage euch, es sind die Juden. Sie haben, wie schon gesagt, den Tod des Juden Menli gerächt. Aber sie haben uns auch gewarnt.«
»Gewarnt?«
»Gewarnt vor der ungeheuren Kraft, die sie aus ihren alten Schriften schöpfen. Sie können alle lesen und schreiben, sie lernen es in ihren Schulen. Bei uns können fast nur die gelehrten Mönche lesen und schreiben, da weiß man, woran man ist. Aber die Juden sind voller Geheimbündelei. Jetzt haben sie es uns gezeigt: Wer den kleinen Turm in die Luft fliegen lassen kann, der kann auch bald die Gedeckten Brücken zerstören, unser Münster, ja, unsere ganze Stadt Straßburg.«
»Und die Pest?«
»Vorher machen sie die Pest, indem sie die Brunnen vergiften!«
Christoph hatte den besonnenen Löb so noch nie gesehen.
Er tobte: »Es geht nicht um unseren schönsten Diamanten, obwohl die geschäftliche Katastrophe unausdenkbar gewesen wäre, wenn er verloren gegangen wäre. Es hat nichts damit zu tun, dass ich ihn nicht gerne geopfert hätte, wenn wir damit das Leben des Juden Menli hätten retten können. Nein, das war euer Leichtsinn! Und euer Leichtsinn, so gut er gemeint war, hat der ganzen jüdischen Gemeinde geschadet.«
»Vater«, sagte Nachum.
»Du sagst jetzt besser nichts, und auch ihr schweigt«, wandte er sich an Esther und Christoph, die stumm dastanden.
Er ging im Zimmer auf und ab: »Unsere Lage ist ernst, das weiß jeder – sehr ernst! Alles, was wir Juden machen, muss jetzt mit äußerster Vorsicht geschehen. Da ist die rätselhafte Zerstörung des kleinen Turmes, hinter der wir die Drahtzieher der Verbrechen an Christophs Familie vermuten müssen. Aber in der Stadt heißt es bereits, die Juden hätten es getan, und daran seid ihr schuld.«
Er schwieg lange.
Esther trat zu ihrem Vater und küsste ihm still die Hand. Nachum folgte, dann Christoph.
»Wir müssen am Abend über alle diese geheimnisvollen Dinge der letzten Zeit sprechen«, fuhr Löb fort.
»Sehr vieles ist mir nun klar geworden«, schloss Philo, der noch einmal ausführlich über die Zerstörung des kleinen Turms berichtet hatte. »Das leere Haus mit seinen Lichtern war eine Nachricht. Die Lichter sind erloschen, als der Turm zerstört war.«
Löb sagte: »Wer einen Turm in einer Sekunde zerstören kann, wofür man Wochen brauchen würde, der kann auch die Gedeckten Brücken zerstören oder das Münster oder die ganze Stadt, wie Herr Wangenbaum das sagt. Er weiß nur nicht, wer die Urheber sind, und schiebt es auf uns Juden, oder er tut so, als wisse er es nicht. Sie haben ungeheure Macht, und wir wissen, dass sie diejenigen sind, die Christophs Familie verfolgen. Sie sind die Drahtzieher, die wir suchen!«
»Für diese Macht haben sie meinen Vater ermordet! Er hätte nicht mitgemacht. Das weiß ich. Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn! Salpeter – Kohle – Schwefel! Sie haben eine neue Anwendung gefunden. Damit können sie in einem Augenblick riesige Gebäude, vielleicht ganze Städte zerstören. So können sie alles erlangen, was sie wollen. Sie haben eine unvorstellbare Macht. Aber wir wissen nicht, wer sie sind!«
»Aber, Balthas, wie kommt es, dass ein so harmloses Mittel, das auf den Jahrmärkten gebraucht wird, eine solch ungeheure Kraft entfesseln kann?«, fragte Löb.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Balthas, »vielleicht sind die Mittel, die man oft für harmloses Spielzeug hält, in Wirklichkeit viel gefährlicher: Wer hätte es gedacht – ein geschnitzter Kopf auf einem hohlen Stecken fliegt in die Luft, und dann ist es vielleicht eine ganze Stadt, die in Trümmern liegt!«
»Was ist eigentlich Salpeter?«, fragte Nachum.
Löb wusste es: »Salpeter wird aus Persien eingeführt. Ich habe schon oft mit ihm gehandelt. Man kann ihn aber auch in unreinerer Form von den Wänden der Ställe kratzen. Er ist ein sehr wichtiger Ausgangsstoff, aus dem man im Bergbau Scheidewasser macht.«
»Scheidewasser?«
»Scheidewasser trennt edle von unedleren Metallen, indem es die unedleren auflöst, die edleren aber verschont.«
»Man sollte es fast ausprobieren. Wir kennen ja die Zusammensetzung – « Nachums Augen begannen zu glühen.
»Nachum, nein«, sagte der alte Abraham ruhig, »unsere Waffe ist das Wort. Wo Worte schweigen und Waffen sprechen, ist nicht unsere Welt. ›Du sollst den Fremdling lieben wie dich selbst!‹, steht in der Thora.«
»Was das alles bedeuten wird, man kann es kaum absehen.« Löb legte Nachum ernst die Hand auf die Schulter.
Der alte Abraham wiegte den Oberkörper: »Die ganze Welt wird sich ändern! Keine Ritterrüstung wird mehr schützen. Keine Tapferkeit, kein Turm, keine Mauer! Das Töten wird leicht werden, denn es geschieht nicht mehr mit der Hand. Kaiser und Könige werden stürzen, denn man wird die Macht kaufen können für Geld: Macht hat, wer Geld für Waffen hat – ganze Völker werden verschwinden! Neues, ganz Anderes wird entstehen, das wir nicht ahnen und das sich auf Zerstörung gründet – und wehe den Menschen, wenn sie diesem Neuen nicht gewachsen sind: Sie werden untergehen.«
Er erhob sich.