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»Ich aber bin müde und froh, dass ich das, was kommen wird, nicht mehr erleben muss.«

Langsam und gebeugt wie unter einer großen Last ging er zur Türe.

Dort drehte er sich um: »Kinder, ich segne euch. Dich, arme Esther, und dich, armer Christoph, und dich, armer, reicher Philo, und ganz besonders dich, lieber, lieber Nachum, der du so voller Eifer bist.«

Die Flocken fielen einzeln und still zur Erde. Sie fielen auf die Häuser der Christen und der Juden und machten alle Dächer gleichmäßig weiß. Sie fielen auf Straßen, Plätze und Gassen, wo sie zu einem bräunlichen Matsch wurden. Sie fielen auf die Stege an der Ill und machten ihr Wasser noch schwärzer.

Christoph ging durch die weiß werdende Stadt und achtete kaum auf die Menschen, denen er begegnete.

Er dachte an Weihnachten, wie die Mutter den Kindern, als die Geschwister noch gelebt hatten, am Morgen des Weihnachtstages Geschenke gegeben hatte. Er erinnerte sich an den gemeinsamen Gang zur Kirche, wo man warm zwischen Vater und Mutter saß. Weihnachten, das war zuerst die sanfte Hand der Mutter, die einen morgens geweckt hatte!

Neben ihm ging Esther und erzählte vom bevorstehenden Chanukkafest: »Weißt du, da bekommen wir Geschenke, du bekommst auch welche, ich weiß das schon. Das Schönste aber ist der Chanukkaleuchter, der acht Kerzen hat. Jeden Tag wird eine Kerze mehr angezündet. Es ist die Erinnerung an die Einweihung des zweiten Tempels. Man hat damals eine kleine Flasche mit Öl gefunden, das höchstens für eine Stunde Licht in der Ampel reichen konnte. Aber es hat acht volle Tage lang gebrannt.«

Christoph war stehen geblieben und starrte in einen Arm der Ill. Ein Stück Holz mit einer Haube aus Schnee schaute dort aus dem dunklen Wasser, obwohl das Wasser kaum einen Finger breit darunter floss. Wenn das Wasser auch nur geringfügig wuchs oder eine winzige Welle –

»Sag mal, hörst du überhaupt zu? Ich rede und rede – «

Christoph schwieg. Nach einiger Zeit nahm er ihre Hand und drückte sie lange an sein Gesicht: »Entschuldige bitte, ich war in Gedanken woanders.«

Sie gingen Hand in Hand schweigend über die weißen Felder illabwärts zum Judenfriedhof. Dort zeigte ihm Esther die Gräber ihrer Vorfahren.

Abraham hatte es erlaubt: »Ihr seid nicht allein – die Vorfahren sind mit euch.«

»Es heißt, wir stammen aus dem Geschlecht der Kalomyniden. Mein Urahn Kalomynos ben Mose stammte aus Lucca in Italien, von wo er vor über fünfhundert Jahren von dem großen Kaiser Karl an seinen Hof nach Aachen geholt worden ist, wo er auch begraben liegt. Er war ein Rabbi und ein sehr bedeutender Gelehrter und hat viele Bücher geschrieben«, sagte sie stolz. »Vater soll dir einmal welche zeigen. Wir sind über den spanischen Teil unserer Familie auch mit Maimonides, dem größten Gelehrten der Juden, verwandt«, fuhr sie fort, »eigentlich heißt er Mosche ben Maimon und stammt aus Cordoba in Spanien. Er lebte vor zweihundert Jahren. Vater hat uns einmal aus seinen Büchern vorgelesen und vieles erklärt. Es ist wunderbar, wie klar und vernünftig auf einmal alles erscheint, was in den Schriften steht.«

Esther zeigte ihm die Steine, die auf die Grabsteine der Verstorbenen gelegt waren.

»Es ist ein uralter Brauch, der zeigt, dass wir Juden aus der Wüste kommen. Wenn in der Wüste jemand gestorben ist, so war meist keine Zeit den Toten tief einzugraben. Es ging im Sand wohl auch schlecht. Deshalb legte man Steine über das flache Grab des Toten, einen möglichst großen Haufen. So konnten die wilden Tiere den Toten nicht ausscharren. Wer nun an einem solchen Grab vorüberkam, der legte einen Stein dazu. Diesen Brauch haben wir beibehalten.«

Es gab Grabsteine, die grau waren vor Alter, manche waren schon halb in den Boden versunken. Andere waren ganz neu. Die Grabsteine waren meist aufrecht gestellt und hatten alle hebräische Inschriften, die Christoph nicht lesen konnte. Esther las ihm einige vor und übersetzte sie. Es waren Stellen aus den Psalmen, die er manchmal schon gehört hatte.

Auf alles fiel gleichmäßig der Schnee.

Die beiden legten Steine auf alle Grabsteine, die zur Familie gehörten.

»Es ist auch für meinen Vater«, sagte Christoph leise, »dem haben sie als einem verurteilten Verbrecher ein christliches Grab verweigert. Wir konnten ihn in dem gefrorenen Boden kaum wirklich unter die Erde bringen.«

Esther legte einen Stein dazu.

Dann scharrte sie den Schnee von einem Mäuerchen und setzte sich darauf, sie schwieg lange.

»Was soll aus uns werden?«, sagte sie leise.

»Ich gehe mit euch. Ich habe es gesagt, ist doch keine Frage.«

»Wir gehen ja nicht fort.«

»Umso besser. Ich bleibe bei dir.«

Esther hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Aber sie schwieg und starrte in den Schnee.

Es war nun sicher, dass der Bischof von Straßburg einen Tag in Benfeld, seiner zweiten Residenz, ausgeschrieben hatte.

»Er hält sich meist in Benfeld auf, in Straßburg hat er fast alle Macht eingebüßt«, sagte Löb abends, als die Stube schon dunkel war und nur der Schnee durch die Butzenscheiben hereinleuchtete.

Löb berichtete weiter: »Er hat den ganzen Adel im Elsass eingeladen und alle Räte der Städte. Es geht ausschließlich um die Juden.«

»Vater, noch ist Zeit – wir sollten gehen. Mendels sind vor vier Tagen abgereist und die Familie des Mosche ist dabei, ihre Sachen zusammenzupacken. Vater, was hält uns denn hier?« Nachum war aufgestanden.

»Selbst wenn ich wollte. Es geht nicht mehr. Ich habe es schon einmal erklärt: Wenn wir jetzt gehen, geben wir erst recht einen Vorwand, dass sie über die Brüder herfallen, die bleiben.«

»Alle müssen gehen. Du musst in der Gemeinde einen Aufruf machen. Sie hören auf dich. Vater!«

»Noch einmal. Ich halte die Situation nicht für so gefährlich wie du. Es ist richtig, dass sie hetzen und dass der Bischof von Straßburg gegen uns ist. Aber er hat wenig Einfluss. Die einflussreichsten Persönlichkeiten in Straßburg sind zurzeit Herr Dopfschütz und Herr Schwarber und beide sind auf unserer Seite.«

»Und was ist mit dem Bäcker Wangenbaum, der die Handwerker hinter sich hat, wie man hört?«, mischte Christoph sich ein.

»Der Wangenbaum ist ein Spruchbeutel, die meisten im Rat nehmen ihn gar nicht ernst.«

»Und dein Freund Dopfschütz – als du dem Menli helfen wolltest, da war er nicht bereit irgendetwas zu tun!«

»Er konnte nicht, Nachum, ich habe das schnell eingesehen. Er musste nach den Vorschriften handeln, sonst hätte er uns noch mehr geschadet. Leute wie Wangenbaum warten doch nur darauf, dass Fehler gemacht werden. Am meisten habt ihr geschadet mit eurem Leichtsinn in der Nacht!«

Die drei schwiegen.

»Und der kleine Turm. Wer sind diese Leute, die nach der Macht streben und Christophs Vater getötet haben? Trotzdem, wir müssen wissen, was in Benfeld geschieht. Wir müssen wissen, was sie dort beschließen.«

In der Stube war es nun fast ganz Nacht geworden.

»Ich gehe nach Benfel?«, sagte Christoph, »seit meiner Ermordung bin ich nicht mehr so gefährdet, außerdem kann ich ja meine Haare wieder einmal scheren lassen.«

»Oder du setzt eine Mütze auf«, sagte Esther und sah ihn besorgt an, »oder beides.«

»Philo geht sicher mit dir«, nickte Löb, »ich habe auch gewisse Verbindungen, die mir Nachrichten zukommen lassen werden. Aber viele Augen sehen mehr.«

»Ich gehe auch mit«, sagte Nachum.

Aber der Vater verbot es ihm: »Wir brauchen dich hier.«

Nachum wagte nicht zu widersprechen.

Später sagte Christoph zu Philo: »Das Haus mit den vielen Kerzen – das begreife ich nicht. Du sagst, das sei eine Nachricht gewesen, als die Lichter ausgingen. Aber wer kann denn Tausende von Kerzen in so kurzer Zeit löschen?«

Philo schaute ihn an, bis Christoph verlegen wurde und murmelte: »Klar, was soll’s, sie haben einfach die Läden geschlossen und die Kerzen nachher gelöscht.«