In Straßburg lebten die Juden wie auf einer Insel.
Scharen von Flüchtlingen aus ganz Deutschland gingen heimlich in der Nacht nach Osten, wurden dennoch unterwegs ertappt, ausgeraubt und beschimpft, mit Steinen beworfen und mit Prügeln erschlagen, in Flüsse und Sümpfe geworfen. Tausende ließen auch hier noch ihr Leben. Nur ganz wenige ließen sich taufen, obwohl Maimonides, der große Vorfahr der Familie Baruch, ausdrücklich geschrieben hatte, dass dies erlaubt sei, wenn man damit sein Leben retten könne.
»Aber dann geht das Judentum unter«, wiederholte Nachum die Worte seines Vaters, »dann doch lieber auswandern.«
In Straßburg gab es Auflaufe der kleinen Leute. Sie schrien und johlten und forderten die Durchsetzung der Benfelder Beschlüsse auch für die Stadt Straßburg.
Herr Wangenbaum hatte große Auftritte.
Aber der Rat, der mehrfach tagte, lehnte die Beschlüsse ab. Herr Schwarber, Herr Dopfschütz, Herr Eisenhut und Herr Kropfgans setzten sich jedes Mal durch, vor allem mit dem Hinweis auf die Macht des Bischofs, die man stütze, wenn die Juden umgebracht oder vertrieben würden.
»Der Bischof hält es mit den kleinen Leuten, er hetzt sie auf, weil er durch sie wieder Einfluss in der Stadt bekommen will«, sagte Herr Schwarber.
»Wir müssen an das Wohl der ganzen Stadt denken!« So redete Herr Dopfschütz und Herr Kropfgans nickte.
Herr Wangenbaum rang die Hände.
In den Wirtshäusern hockten die Männer am Feierabend länger als sonst: »Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen! Man muss etwas tun!«
»Die reichen Herren machen, was sie wollen. Sie machen Geschäfte mit den Juden, verdienen in einer Woche mehr Geld, als eine ganze Schmiedewerkstatt mit Meister und Gesellen in einem Jahr auffressen kann, und scheren sich einen Dreck, wie es dem einfachen Mann ergeht! Wenn dann der schwarze Tod kommt, so hauen sie ab.«
In Gruppen standen sie in den Gassen. Herr Wangenbaum bekam von Tag zu Tag mehr Zuhörer.
Der Frosch rieb sich die Hände: diese Pest! Er hätte nie gedacht, dass eine Krankheit so einträglich sein konnte.
Der Kauf der neuen Wurzeln war gut gelungen. Niemand ahnte, dass die Rüben, die er billig bei den Bauern erstand, als teuere, unfehlbare Medizin gegen die Pest auf dem Markt der Stadt Lahr angeboten wurden. Die Herstellung hatte er bedeutend verbessert. Er hatte zwar selbst noch nie eine echte Alraunenwurzel in der Hand gehabt, aber sie sahen irgendwie so echt aus, dass er selbst ganz begeistert war. Er hatte das Verfahren der Herstellung beschleunigt und war sehr zufrieden mit sich. Natürlich konnte das Ganze immer noch verbessert werden. Er steckte voller Ideen.
Seinen Jahrmarktstand hatte er vergrößert. Neue Bilder waren aufgehängt, noch viel eindrucksvoller als die ersten, einen Fiedler und einen Trommler hatte er zu dem Dudelsackpfeifer engagiert. Sie konnten gemeinsam und einzeln spielen, sie konnten sich auch abwechseln. Er musste sie natürlich bezahlen. Aber das waren Hungerleider, Musikanten, die froh um jedes Stück Brot sein mussten, das er ihnen gab. So blieb für ihn selbst genügend übrig, er konnte sich ausrechnen, dass er sich in kurzer Zeit mit einer riesigen, nie geahnten Geldsumme zur Ruhe setzen konnte.
Und die Pest?
Der Frosch hatte vor ihr keine Angst. Er hatte das Gefühl, dass Geld der beste Schutz vor der Krankheit war. Niemals war Blutgeld besser angelegt worden.
Und jetzt folgte die Krönung. Da war dieser Bote aus Straßburg, der ihn einlud zu geschäftlichen Gesprächen. Es schwindelte ihn: Er, der kleine Gauner, der Habenichts, auf dem alle herumgetrampelt waren, sollte womöglich Teilhaber werden! Teilhaber eines der reichsten Männer am Oberrhein. Zumindest würde ein wirklicher Kaufmann Geld in sein Geschäft stecken. Er konnte das Geschäft in großem Stil fortsetzen, vielleicht sogar eines Tages mit echter Mandragora handeln. Sein Erfolg hatte sich in der Geschäftswelt herumgesprochen!
Schade, dass der Diener, der so reich gekleidet war, nicht den Namen seines Herrn verraten hatte. Im Geschäftsleben dürfe man nicht alles an die große Glocke hängen. Noch sei ja kein Abschluss gemacht. Der Diener hatte aber ganz locker mit ihm über geschäftliche Dinge geplaudert und gezeigt, wie gut er sich auskannte. Und er hatte ganz gut mitgehalten bei diesem Gespräch. Er hatte gleich gemerkt, dass ihm der Diener auf den Zahn fühlen sollte, und er hatte sich bestens geschlagen. Der Diener war auch befugt ihn nach Straßburg zu begleiten – ob er nicht überhaupt seinen Stand in Straßburg aufbauen wolle?
So kamen sie nach Straßburg mit Dudelsackpfeifer, Trommler und Fiedler. Den Stand solle er erst nach der Unterredung aufbauen, hatte ihn der Diener angewiesen, er solle sich zuerst sehr unauffällig verhalten, weil sein Herr auf seinen guten Ruf bedacht sein müsse. Deshalb könne er ihn leider vorerst auch nicht in sein Haus aufnehmen.
Der Frosch hatte aber nicht widerstehen können und auf einem kleinen Platz einen kleinen Stand, nur mit den alten Bildern und dem Dudelsackpfeifer, aufgebaut. Er verkaufte recht gut. Man konnte den Umsatz steigern, indem man in die Verkaufsrede die Juden mit einbezog, wie sie die Brunnen vergiften würden, und wie gerade die Alraunenwurzel das beste Mittel gegen dieses Gift sei.
»Es ist erprobt, meine Herren und schönen Damen«, rief er, »es ist erprobt in Italien, Spanien und in der Schweiz mit den besten Erfolgen, freilich ist es nicht ganz billig und nicht jeder kann es sich leisten. So gibt es leider trotz dieses Wundermittels sehr, sehr viele Tote in den genannten Ländern. Und hier in Straßburg wird ja nichts gegen die Juden, diese Brunnenvergifter, unternommen. Kauft, ihr Leute, kauft.«
Welch ein Glück, dass er in Straßburg war, wo den Juden nichts geschah.
Da stand endlich der Diener seines künftigen Geschäftspartners vor ihm. Er solle heute Abend in ein von ihm genau bezeichnetes Haus kommen an der Ill, wo man miteinander reden könne, ohne dass halb Straßburg davon Wind bekomme. Sein Herr bedauere das sehr, aber er lasse ihn grüßen und hoffe, dass der Gang der Geschäfte den Herrn – wahrhaftig, er nannte ihn einen Herrn – völlig zufrieden stellen werde.
Es war keine gute Gegend, wohin der Diener ihn bestellt hatte. Vom Gerberviertel herüber stank es nach Gerberlohe.
Wie er diesen Geruch hasste, der ihn an seine armselige Herkunft erinnerte! Sein Vater war Gerbergehilfe in Pforzheim gewesen und hatte sein bisschen Lohn immer versoffen. Seine Mutter musste sich und ihren Sohn mit Gefälligkeiten für Männer durchbringen, wie sie das nannte. Da war kein Geld für eine Lehre gewesen. Knechtsarbeit hatte er bei den Bauern tun müssen – dann Einbruch, Wegelagerei, Raub –, ein Kumpan hatte ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Zuletzt wurden sie erwischt und in den Turm gelegt, angeschmiedet mit einer Kette – Rad oder Galgen?
Bis ihn diese Kaufleute herausgeholt hatten mit dem Mordauftrag.
Und jetzt – welch ein Aufstieg! Er würde vielleicht eines Tages sogar Ratsherr werden –
Da war es: Ein schiefes, baufälliges Haus mit einer schwindeligen Brettergalerie am Giebel, der sich bedenklich über einen Arm der Ill neigte. Gut, dass etwas Schnee lag, man hätte sonst nicht die Hand vor den Augen gesehen. Aus der Ill schien die Kälte heraufzusteigen.
Er solle die Türe öffnen und einfach hineingehen, sie sei nicht abgeschlossen. Das musste wohl ein Witz sein: Diese schiefe Türe hatte noch nie jemand abschließen können. Vielleicht müsse er etwas warten, aber der Herr werde sich beeilen. Freilich sei er viel beschäftigt und nicht immer ganz Herr seiner Zeit.