In wenigen Minuten würden sich alle begrüßen: »Schabat Schalom!«, und dann zusammen den Beginn des Sabbats feiern. Die Frauen hatten das Essen vorbereitet, den Tisch gedeckt, die Kerzen angezündet, bis die Männer aus der Synagoge zurückkämen. Alle würden sich in der Küche die Hände waschen wie vor jeder Mahlzeit, die linke Hand, die rechte. Die Frauen würden das Essen auftragen und sich zu den anderen an den Tisch setzen. Der alte Abraham würde den Tallit, den Gebetsmantel mit den Gebetsschnüren, tragen. Er würde den Becher mit Wein segnen, das Salz über die Challot streuen, die beiden geflochtenen Brote, von denen Christoph mitessen durfte. Er kannte sogar oft die hebräischen Worte.
Baruch ata, Adonaj Elohejnu, Melech Ha’Olam,
ascher kidschanu Be’Mitzwotav we ziwanu,
le’hadlik Ner schel Schabbat.
Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt,
der du uns geheiligt durch deine Gebote
und uns befohlen hast, das Sabbatlicht anzuzünden.
Es klopfte an seiner Türe. Esther? Zu seiner Verwunderung war es Abraham: »Wir brauchen kein Licht.« Er drückte ihn in der Dunkelheit auf einen Stuhl. »Lieber Christoph, Löb bittet dich durch mich. Es ist fast zu viel verlangt, das wissen wir – «
Er redete etwas hastiger als sonst, auch ging sein Atem schwer. Aber seine Stimme, die das Einzige war in der Dunkelheit, war wie immer warm und umgab Christoph wie ein Mantel.
»Es kann doch nichts zu viel sein!« Christoph schüttelte in der Dunkelheit den Kopf.
»Du sollst für uns noch heute einen Botengang nach Schlettstadt machen. Das ist sehr weit.«
»Darauf freue ich mich schon.«
»Es ist aber eilig – du musst sofort aufbrechen.«
»Gleich jetzt?«
»Ja, es ist wirklich sehr eilig, noch vor dem Essen. Wir geben dir Essen für unterwegs mit. Du wirst morgen früh bei Tagesanbruch in Schlettstadt sein und Herrn Twinger, einen Kaufmann, den Schwager des Herrn Schwarber, aufsuchen. Er wird dich schon erwarten. Noch einmal, es duldet keinen Aufschub, du musst jetzt sofort aufbrechen!«
Herrn Twinger solle er ein Päckchen und einen Brief abgeben, auf Antwort warten und mit dieser Antwort wieder zurückkommen. Seine Anstrengung werde belohnt.
»Ich will doch keinen Lohn!«
Abraham drückte ihm ein versiegeltes Bündel in die Hand.
Es war das erste Mal, dass die Familie etwas Größeres von Christoph verlangte.
Ein winziges Schluchzen schien in der Stimme des alten Abraham. »Weißt du, es ist Sabbat«, er legte den Arm um Christoph und drückte ihn lange an sich, »du weißt, dass wir Juden an diesem Tag manchmal ganz auf euch Christen angewiesen sind.«
Christoph solle sich warm anziehen, es liege schon alles bereit, auch neue Sachen. Denn es sei kalt und er müsse die ganze Nacht hindurchwandern, bis er bei dem Geschäftsfreund unterkomme. Der warte schon vor Sonnenaufgang auf ihn, dort könne er sich ausruhen und am Tag zurückwandern. Frühestens gegen Abend oder übermorgen sei er dann wieder in Straßburg.
Schade, dass es am Valentinstag sein muss, dachte Christoph, als er in die warmen Sachen schlüpfte. Aber endlich kann ich etwas für die Familie tun. Es war wie eine Erlösung. Er versuchte noch ein Wort von Esther zu erhaschen, aber die war in ihrer Kammer.
Der alte Abraham segnete Christoph unter der Schwelle: »Der Herr segne deinen Eingang und Ausgang, er behüte dich auf allen Wegen!«
Das Bündel war sehr leicht, er spürte es überhaupt nicht – es waren wohl – nur einige Schriftstücke, vielleicht ein Vertrag. Christoph glaubte den festen Kern eines Siegels ertasten zu können.
Die Stadt war eigenartig unruhig –
Er achtete nicht darauf, auch nicht auf die große Zahl von Fuhrwerken, die jetzt noch am Abend in den Gassen fuhren. Er staunte über die vielen Fackeln, deren Licht durch die dunstige Luft flackerte.
Er musste sich wegen einiger Karren eng an einem der Münsterportale vorbeidrücken. Im Schein einer Fackel sah er auf einmal eine Steinfigur, die er noch nie beachtet hatte. Im Licht stand die Gestalt eines Königs, der einen Apfel vor sich hielt. Er hatte einen Blick, als gehöre ihm die ganze Welt.
Aber der erschrockene Blick Christophs fiel auf seinen Rücken: Da hockten im rötlichen Schein des Feuers steinerne Kröten und Schnecken und fraßen sich Würmer hinein.
Er verließ die Stadt durch das Elisabethentor nicht weit entfernt von Philos Versteck. Er hatte kurz gezögert, aber Abraham hatte nichts von Philo gesagt. Eigentlich war er froh, endlich etwas alleine machen zu können. Der Torwächter hatte nach seinem Ziel gefragt und zu seiner Antwort laut gegähnt.
Schnell war es dunkel geworden, aber der Weg war leicht zu finden.
Auf halbem Weg lag Benfeld.
Hoffentlich wird der Nebel nicht zu schlimm, dachte Christoph.
Es war eigenartig, in dem dünnen Nebel so alleine zu wandern. Wegsteine und hohe vertrocknete Distelgruppen kamen ihm langsam entgegen und glitten vorbei. Wie Schatten lösten sich Bäume und Wegkreuze aus der Dunkelheit. Irgendwo musste der Mond sein. Sonst wäre es ganz dunkel gewesen. So waren wenigstens die vielen Wagenspuren und die in den Boden gedrückten Schotterflächen etwas zu erkennen.
Vor einigen Tagen hatte es geregnet und der Schnee war vergangen.
Die Müdigkeit, die ihn überfallen wollte, überwand er leicht. Zuerst war er an einigen Herbergen vorbeigekommen, aus deren Toreinfahrten Licht schimmerte. Dann war er lange auf freiem Feld. Durch einige Dörfer würde er kommen, dann nach vielen Stunden Benfeld erreichen, dann weitere Dörfer, und nach über zehn Stunden wäre er in Schlettstadt.
Vielleicht überholt mich ja ein Fuhrwerk, auf dem ich aufsitzen kann, dachte er und griff bei jedem Schritt weit aus, aber offenbar wollte jetzt zu Beginn der Nacht niemand mehr nach Schlettstadt fahren. Viele Fuhrwerke kamen ihm entgegen und strebten dem Schutz der Stadtmauern zu.
Meist aber war er allein.
Dörfer durchquerte er, deren Namen er nicht kannte. Die Häuser kamen aus dem Dunkel und zogen vorbei, Hundegebell, Klirren und Schnauben aus den Ställen.
Er wusste, dass es auf der ganzen Strecke keinen einzigen Berg gab, so war das Wandern in dieser windstillen Nacht nicht schlimm.
Eine Geschichte fiel ihm ein, die Regine einmal erzählt hatte, den Schluss wusste er nicht mehr, hatte sie ihn nicht erzählt? Oder gab es keinen?
Jeden Tag stieg der Gaukler auf das Seil und tanzte. Er war ein großer Seiltänzer, dem die Leute zujubelten. Er verdiente viel Geld. Und er konnte viel auf dem Seil, vielleicht war er der Beste. Aber er wollte noch viel lernen: die Purzelbäume noch schneller schlagen, das Seil noch höher spannen, die Sprünge noch weiter machen. Eines Tages sah er von seinem Seil aus einen Mann in der Menge stehen, der jubelte nicht und lachte nicht. Mit unbewegtem Gesicht blickte er zu ihm herauf.
Ich bin der Tod, sagte der Mann, der auf ihn gewartet hatte, ich bin gekommen, dich zu holen!
Was kann ich machen, dass du mich nicht holst?, fragte der Gaukler.
Nichts, sagte der Tod, ich hole dich auf jeden Fall. Aber du kannst mit mir wetten, dass ich dich nicht hole, da hast du immerhin Hoffnung.
Der Gaukler schlug eine Wette vor: Du holst mich nicht, wenn ich auf dem Seil ein Rad schlage.
Ich hole dich, wenn du es nicht kannst.
Der Gaukler schlug ein Rad.
Nach sehr langer Zeit – ihm war es gewesen, als hätte er eine weit entfernte Kirchturmuhr viele Stunden schlagen hören – wurde es heller und ein milchiger Mond war zu ahnen. Kein Stern war zu sehen. Das Land um ihn weitete sich, ganz rechts glaubte er die schwarze Masse der Vogesen zu sehen. Bald musste er in Benfeld sein. Die Beine waren schwer und er trottete fast im Schlaf. Über den Feldern lag eine flache Nebelschicht, die sich manchmal über seinen Weg dehnte, dann befand er sich in einem Zwielicht und sah kaum die Hand vor den Augen. Es war kalt geworden, seitdem der Mond schärfer hervortrat.