Dann, als er fast ganz aus dem Nebel trat, sah er vor sich, offenbar an einer Wegekreuzung, eine Gruppe von drei Kreuzen aufragen. Zu ihren Füßen war eine Steinbank, auf der eine Gestalt kauerte. Christoph erschrak und verzögerte unwillkürlich den Schritt. Im Nähertreten sah er, dass die Gestalt auf den Knien lag und betete – ein Mönch, wie ihm schien.
Der Mönch betete, seine Stimme war undeutlich, als spreche er im Schlaf: »Herr Gott, des die Rache ist, erscheine. Erhebe dich, Du Richter der Welt; vergilt den Hoffartigen, was sie verdienen.«
Die Gestalt richtete sich auf, als Christoph an ihm vorbeiging.
»He, du!«
Christoph ging rascher. Der Mönch war aufgestanden und begann hinter ihm herzulaufen. Christoph ging noch schneller – was wollte der von ihm? »Ich habe keine Zeit!«, schrie Christoph und begann zu laufen.
»Wir müssen zum Bischof«, hörte er. »Du musst mit mir zum Bischof.«
Zum Bischof! Wie konnte man in der Nacht zum Bischof wollen, wenn alles schlief? Es war ja am Tag kaum möglich, wenn man kein Graf oder wenigstens ein Ritter war.
Das war ein Wahnsinniger. Es konnte nicht anders sein, jetzt mitten in der Nacht auf freiem Feld!
Christoph hörte das Rufen noch lange. Es verlor sich erst, als er die Mauern von Benfeld erreichte, die er umging, weil es ihm viel zu lange dauerte, bis der Torwächter die Pforte öffnen und ihn nach endloser Fragerei durchlassen würde. Er sah die Kirchtürme und das hohe Dach der Residenz des Bischofs wie Silber glänzen und dachte an das, was in diesem Hause Grausiges beschlossen worden war. Er dachte an den schrecklichen Herrn Dopfschütz, der seinen Vater verfolgt hatte und vielleicht auch ihn noch verfolgte, Herrn Dopfschütz, der offenbar die Macht hatte einen steinernen Turm mit einem Knall in die Luft zu jagen und der das Geheimnis, wie er das machte, mit Mord und Totschlag verteidigte, und der seltsamerweise der Beschützer der Straßburger Juden war.
Viele Stunden später war der Mond untergegangen und ein fahles Licht von Morgen her kündigte den Sonnenaufgang an. Es war bitterkalt geworden. Auf den Feldern ringsum lag der Reif wie Asche. In der Ferne hoben sich graue Türme über den Dunststreifen, die sich über die Felder zogen – Schlettstadt.
Er konnte kaum mehr stehen, als er die Torwache nach dem Haus des Kaufmanns Twinger fragte.
Christoph wartete frierend, bis ihm geöffnet wurde. Die Füße brannten, er konnte die Augen schwer offen halten. Als Herr Twinger endlich verwundert die Türe öffnete, sah er nicht aus, als hätte er jemand erwartet.
Es schien Christoph, als lese der Kaufmann den Brief, den er ihm mit dem Bündel gab, erstaunt und dann sehr bedrückt. Einige Male schaute der Kaufmann ihn über den Brief hinweg mitleidig an.
Es sei sehr, sehr wichtig, und Herr Twinger, der seltsam unsicher wirkte, sei dankbar, dass er den weiten Weg in der Nacht gemacht habe. Die Antwort an seinen Freund Löb Baruch brauche viel Zeit.
Frau Twinger kam und wurde von ihrem Mann am Arm auf die Seite gezogen, worauf er mit ihr flüsterte. Sie blickten dabei mehrfach zu Christoph. Sie war eine rundliche Frau mit mütterlichem Gesicht. Zuerst schaute sie Christoph nicht recht in die Augen, war dann aber besorgt um ihn – ob der Weg nicht zu weit gewesen sei und dazu in der Nacht, ob er denn keine Angst gehabt habe. »Jakob, wir müssen – « Sie stockte mitten im Satz.
Er bekam zu essen und zu trinken, er durfte sich ausruhen: »Du hast noch viel Zeit, bis alles vorbereitet ist und du nach Straßburg zurückwandern kannst. Ruh dich aus, du kannst den verlorenen Schlaf in der Kammer nachholen, dann hast du Kraft für den Rückweg.« Frau Twinger strich Christoph über die Haare, als sie die Türe zu einer kleinen Kammer öffnete.
Christoph schlief ein, während er noch kaute.
Er sah den Mönch, der bei Benfeld im Mondlicht unter den drei Kreuzen gebetet hatte. Der Mönch selbst war der Gekreuzigte und es war, als wolle er ihm mit den ausgespannten Armen etwas zeigen. Christoph war es aber unmöglich, dorthin zu blicken, wohin der Gekreuzigte deutete. Etwas Entsetzliches, etwas völlig Unerträgliches musste dort sein.
Sein Herz klopfte so stark, dass er erwachte. Das Grauen, das er im Schlaf empfunden hatte, war geblieben.
Er hatte nicht lange geschlafen, kaum eine Stunde, wie Frau Twinger besorgt feststellte.
Aber um keinen Preis wollte er noch einmal zurück in die Kammer. Er sei nicht mehr müde und habe genug geschlafen, sagte er mit brennenden Augen und steifem Genick und unterdrückte ein Gähnen. Er wolle sich in Schlettstadt umsehen, meinte er schließlich, als Herr Twinger von einigen Stunden sprach, die er noch warten müsse.
Der Himmel war weiß. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die Gassen waren grau. Christoph fror so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, damit sie nicht klapperten, als er zur Kirche und zum Rathaus schlenderte. Dabei war der Reif schon wieder getaut. Er nahm wenig wahr von der Stadt. Der prächtige Eindruck der Kirche verflog gleich wieder; es fiel ihm schwer, seine Gedanken auf etwas Bestimmtes zu richten. Er schob es auf die Müdigkeit; es war schließlich keine Kleinigkeit, eine ganze Nacht hindurch ohne Schlaf zu wandern. Abraham und Herr Twinger konnten mit ihm zufrieden sein.
Obwohl er fror, setzte er sich auf eine steinerne Bank beim Rathaus und schlief offenbar sofort wieder ein.
Als er frierend erwachte, fuhr er heftig zusammen. Ein Mönch saß neben ihm. Er wollte sofort aufspringen und weggehen. Aber eine eigenartige Neugier zwang ihn auf seinem Platz zu bleiben.
Der Mönch beachtete ihn nicht. Er flüsterte vor sich hin.
Christoph, der ihn von der Seite ansah, war überzeugt, dass es der nächtliche Mönch war, den er auch im Schlaf gesehen hatte. Die Kutte war braun, die bloßen Füße verkrustet von Schlamm und Staub; er hatte einen Stab neben sich liegen. Sein Gesicht, das er im Mondlicht bei Benfeld deutlicher gesehen hatte, konnte er jetzt nicht recht erkennen, weil dem Mann die Haare ins Gesicht fielen, auch hielt er den Kopf gesenkt. Sein wirrer Bart lag auf einer Kutte, die speckig war und voller Flecken.
Christoph versuchte das Gemurmel zu verstehen – das meiste war lateinisch, was Christoph nicht so schnell übersetzen konnte. Dazwischen waren deutsche Brocken gemischt: »Herr, wie lange sollen die Gottlosen prahlen? Witwen und Fremdlinge erwürgen sie und töten die Waisen und sagen: Der Herr sieht es nicht und der Gott Jakobs achtet es nicht.«
Seine Stimme blieb leise, als er sich zu Christoph drehte: »Sie hören nicht das Weinen der Kinder und nicht die Schreie der Mütter. Was hören sie überhaupt? Sie hören nichts!«
Sein Gesicht war ungesund weiß und voller Falten. Aber es war nicht mehr unheimlich wie in der Nacht. Die Augen waren blutunterlaufen.
Er ließ den Kopf wieder fallen und sagte leise und wie erschöpft: »Sie reißen die Säuglinge den Müttern von der Brust. Sie schichten Holz auf, sie schleppen die Menschen, jetzt, jetzt – «
Christoph überlief es: Wovon redete der?
Der Mönch sprach weiter sehr leise: »Alle verstehen es, wenn sie nur guten Willens sind – bonae voluntatis.«
Christoph zwang sich sitzen zu bleiben.
»Sie kreuzigen Jesus Christus ein zweites Mal.« Er machte eine lange Pause, der Kopf blieb gesenkt, dann flüsterte er: »Sie morden für sich selbst. Und sie sagen, es sei für Gott. Sie hören nicht das Wimmern der Säuglinge, sie hören nicht das Weinen der Kinder, sie hören nicht die Schreie der Mütter, sie achten nicht die Leiden der Väter. Sie quälen, wo sie lindern sollten. Sie fluchen, wenn sie Erlösung predigen. Sie streuen Hass, wo sie Liebe säen sollten. Sie ernten Tränen statt Lachen. Und alles geschieht beim Schein der Sonne!«