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»Wo?« Christoph schrie es. Er war aufgesprungen. Es war, als hätte ihn eine gewaltige Faust gepackt. »Wo schichten sie Holz auf? Jetzt! Wo ist das?«

Freilich, das konnte am ganzen Oberrhein sein. Aber gab es überhaupt noch eine Stadt, wo das nicht schon geschehen war?

»Straßburg?« Er schrie es mit fremder Stimme.

Der Mönch fasste ihn am Arm: »Die Macht und das Gel?«, sagte er vertraulich, seine Stimme hatte nichts Ungewöhnliches mehr, »es gibt viele wie mich in der Kirche Gottes. Aber sie hören uns nicht, sie sagen, wir seien schädlich – «

Er schaute Christoph voll ins Gesicht: »Ich war Abt in einem Kloster bei Colmar. Dann haben sie in Benfeld beschlossen die Juden zu ermorden. Der Bischof selbst hat es vorgeschlagen.«

Seine Stimme wurde etwas lauter: »Ich habe dagegen gepredigt und Berthold von Buchegg, dem Bischof von Straßburg, einen Brief geschrieben: Die Juden sind Ungläubige, aber die Liebe ist größer als der Glaube – die Liebe ist das Größeste unter allem, sagt Paulus. Christus war sehr sanft und voller Liebe – die Liebe ist duldsam, die Liebe ist langmütig, die Liebe eifert nicht, die Liebe tötet nicht. Der Herr Bischof hat mich abgesetzt und sie werden mich als einen Ketzer verbrennen. Ich wollte heute Nacht zu ihm. Sie morden, wo sie Leben bringen sollten.«

Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Es war nicht möglich.

Von den Türmen der Stadt hörte man den Stundenschlag.

Von Entsetzen geschüttelt packte Christoph den Mönch: »Wo ist das? Wo geschieht das alles?«

Aber er wusste es ja, es war ja keine Stadt mehr übrig am Oberrhein. Er wusste es, als er zum Hause des Herrn Jakob Twinger rannte.

Er hatte es ihnen ins Gesicht gesagt. Er hatte gehofft, dass sie es verneinen würden, aber Herr Twinger hatte ihm die Hand auf den Kopf gelegt und Frau Twinger hatte ihm die Wange gestreichelt. Sie hatten Tränen in den Augen.

Sie hatten ihm das Bündel wiedergegeben.

Er kümmerte sich nicht um die Torwache, die nach dem Wohin fragte.

Frau Twinger hatte ihm zu dem Bündel ein leinenes Säckchen in die Hand gedrückt, darin sei Essen. Er hatte nicht darauf geachtet. In seinem Kopf war ein schriller Ton. Eine Glocke läutete unentwegt. In seinem Hals würgte Weinen.

Streckenweise rannte er, dann ging er wieder atemlos. Er würde kaum vor Einbruch der Dunkelheit in Straßburg sein. Er rechnete es aus, als es ihm langsam gelang, seine Gedanken zu ordnen. Er musste sich mit Gewalt zwingen die Bilder abzuweisen, die sich ihm aufdrängten – die Juden in den Gassen der Stadt, wie sie, eingequetscht in die johlende, höhnende und spottende Menge, stumm dahinzogen. Esther!

Weshalb war er nach Schlettstadt geschickt worden? Erst langsam stellten sich die Fragen ein.

Allmählich wurde klar: Abraham hatte ihm das Leben gerettet! Und es war sicher, dass dies im Einvernehmen mit Löb geschehen war. Aber weshalb ihm, weshalb nicht Esther und Nachum? Weshalb hatte sich nicht die ganze Familie gerettet, da sie doch offenbar am Vorabend vor dem Valentinstag von dem bevorstehenden Unheil wussten? Wusste es auch Esther? Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet! War ihr das zu schwer gefallen?

Schmerzlich sicher war, dass er ausgegrenzt worden war. Er sollte nicht mit ihnen sterben.

Als der Hunger überhand nahm und er vor Schwäche kaum mehr gehen konnte, aß er im Gehen. Der Himmel war weiß. Er hörte nur sein eigenes Keuchen.

Straßburg war die einzige Stadt am Oberrhein, in der die Juden verschont worden waren. Herr Dopfschütz und andere hatten die Juden geschützt. Die Auflaufe! Was war geschehen?

Die Fuhrwerke, die ihm auf der Straße entgegenkamen, und die Menschen, die er überholte, sah er kaum.

Manchmal verzögerte er den Schritt: Es hilft ja doch nichts. Bis ich in Straßburg bin, ist alles vorbei!

Dann rannte er wieder los.

Kurz hinter Benfeld, als die Beine längst zu Bleiklumpen geworden waren und er im Gehen fast einschlief, überholte ihn ein Fuhrwerk, das ihn mitnahm. Der Fuhrmann wies mit dem Peitschenstiel nach hinten auf die Ladung aufeinander gestapelter Tierhäute, die zum Gerber gefahren wurden. Hier konnte er die wunden Beine ausstrecken und schlief sofort ein.

Als er erwachte, war tiefe Nacht. Der Fuhrmannskarren stand im Hof einer Herberge.

Nicht lange nach Sonnenaufgang war er in Straßburg.

Die Luft war erfüllt von Glockenklang, die Gassen lagen friedlich im Morgenlicht. Richtig, heute war Sonntag. In der Spitalkirche sangen Mönche, über die Ill herüber trug die laue Luft Gesang aus der Thomaskirche, die Portale der Nikolauskirche standen offen, die Leute trugen Sonntagskleidung und gingen zum Gottesdienst. Aus den Häusern hörte man Lachen und Kinderweinen, es roch nach frischem Gebäck und nach heißer Milch. Die Schornsteine rauchten. An den Ufern der Ill schnatterten die Gänse und plusterten sich die Enten, die Weiden hatten bereits einen grünen Schimmer, silberne Kätzchen traten an den Zweigen hervor.

Alles war gut! Nichts war geschehen. Die guten Mächte hatten sich durchgesetzt und hatten die Juden behütet. Die Erzengel und Propheten waren von ihrer Säule im Münster herabgestiegen und hatten sich vor die Synagoge gestellt. Das Auge des Münsters hatte wie seit hundert Jahren über der altehrwürdigen Stadt gewacht.

Niemand hatte den Juden ein Leid zugefügt.

Esther würde ihm zulächeln, Abraham und Löb würden ihn loben.

Er tastete nach dem Bündel, das er dem alten Abraham zurückbrachte, es war sehr leicht – sicher ein wichtiger Brief, ein Vertrag vielleicht, den Herr Schwarber unterschrieben hatte und der sehr eilig gewesen war, man konnte den Knoten eines Siegels spüren. Die Geschäfte gingen weiter. Der Magen knurrte.

Alles würde sein wie immer!

Unter einem Baum spielten Kinder.

Zwei kleine Jungen und ein noch kleineres Mädchen rauften um etwas Buntes. Die Jungen schrien und zogen sich an den Haaren. Das Mädchen weinte, einer der Jungen trat nach dem anderen mit den Füßen: »Gib das sofort her! Es gehört mir!«

Christoph trat näher. Die Kinder stritten sich um ein großes abgerissenes Stück Pergament. Zeichen waren darauf, kostbare goldene, blaue und rote Schriftzeichen. Die Schrift war hebräisch! Die Welt begann sich zu drehen –

Totenstille. Rauch stand in den Gassen im Judenviertel. Im Dreck lag eine winzige Holzpuppe. Die Pergamentfüllungen der Fenster waren eingedrückt, die Türen eingeschlagen. Vor der Synagoge verkohlte Fetzen von Pergament – halb verbrannte Bücher, die Türen zerhackt, die bunten Fenster knirschten unter den Schuhen.

Im Hause Löbs kein Laut – die Wände waren kahl, Stühle und Tische umgestürzt, Truhen offen und leer. Überall Rauch und Kalkstaub. Mitten in der großen Stube schwelte ein Aschenhaufen – die Dielen waren verkohlt, halb verbrannte Gegenstände waren verstreut, überall Fetzen von Büchern. Das Bücherbord war von der Wand gerissen. Die Thorarolle lag zerfetzt. Der Leuchter war umgestürzt. Die Fenster waren eingeschlagen, das Geschirr zertrümmert – Scherben mit vertrauten Mustern, Scherben. Die Wandvertäfelung war an vielen Stellen herausgerissen, aufgebrochen, zerhackt. Seine Augen brannten.

Christoph hockte auf dem Boden und starrte vor sich hin.

Irgendwo steckte ein Klotz, der seine Fäuste zusammenballte. Schreien, schreien! Seine Lippen formten nur ein Krächzen.

Ein Luftzug spielte mit Asche und verkohltem Stroh.

Es war kalt.

Nach langer Zeit ging er die Stiege hinauf zu seiner Kammer. Auch hier war alles um und um gekehrt. Die Füllung des Bettes herausgerissen, seine Kleider verschwunden. Die Truhe hatte man zerhackt. Selbst der Putz der Wände war an vielen Stellen aufgeschlagen. Die Tonplatten des Fußbodens waren überall aufgebrochen.

Die Türe zur Kammer Esthers war die einzige unversehrte im ganzen Haus, ihr Anblick war so vertraut, dass er unwillkürlich anklopfte, bevor er hineinging. Aber innen war es wie überall, auch bei Nachum und in den anderen Kammern.