Kein Laut, kein Mensch. Rauch und das Rascheln von Stroh auf dem Fußboden, wenn der Durchzug durch die zerschlagenen Fenster stärker wurde.
Eine schwarze Ratte hockte mitten in der Stube und nagte an einem Fetzen eines Buches. Christoph schrie sie an, er trat mit den Füßen nach ihr. Sie wich seinen Tritten aus, indem sie zur Seite glitt, dann nagte sie weiter. Er trampelte, er brüllte, er warf nach ihr, er schlug mit einem Stuhlbein. Aber die Ratte wich immer aus.
Philo berichtete: Löb, Abraham und die alte Esther seien tot. Von Esther und Nachum wisse er nichts.
Er erzählte, wie schon vorgestern gegen Abend die Unruhe in der Stadt zugenommen habe, wie er sich zuerst gewundert habe über die vielen Holzkarren, die seit dem Nachmittag in die Stadt gekommen seien. Wie er noch spät zum Hause Löbs gerannt sei, um sie zu warnen, denn es sei jetzt auch geredet worden in der Stadt: Die Leute hätten sich die Hände gerieben und sich gefreut wie auf ein Fest. Wie aber die Türe bei Löb nicht geöffnet worden sei und wie ihm eingefallen sei, dass es der Vorabend zum Sabbat war, an dem nur ungern Besuch empfangen wurde. Wie er in seiner Verzweiflung gerufen und mit Fäusten gegen die Türe getrommelt habe und mit den Füßen gegen die Türe getreten sei. Nichts habe sich gerührt im Hause, in den Fenstern aber sei Licht gewesen. Wie er gedacht habe, dass die Familie bereits geflohen sei und Christoph mitgegangen sei, wie er immer gesagt habe. Er habe geglaubt, dass sie das Licht im Hause zur Täuschung hätten brennen lassen. Zu denken, dass sie sein Klopfen und Rufen gehört haben mussten –
»Weißt du, ich war traurig, dass du ohne Abschied gegangen bist. Vielleicht wäre ich ja sogar mitgegangen – wir Gaukler lieben das Wandern. Aber letztlich war ich froh, dass ihr alle wenigstens in Sicherheit seid.«
Christoph lächelte trüb.
»Das haben sie sich gut ausgedacht im Rat dieser altehrwürdigen Reichsstadt! Die Juden waren alle in ihren Häusern – dieser Tag des heiligen Valentin war ja ein Sabbat. In der Nacht haben sie das Viertel der Juden mit Barrikaden verrammelt.
Am Morgen des Sabbats haben sie die Juden aufgefordert herauszukommen, der Rat würde sie vor dem Pöbel schützen, wie es in den Statuten der Stadt vorgesehen sei, und ihnen die Flucht zuerst auf Schiffen über den Rhein und dann nach dem Osten ermöglichen. Es sei alles vorbereitet, sie müssten nur Vertrauen haben. Herr Dopfschütz und Herr Eisenhut haben das gesagt, von denen man wusste, dass sie die Juden immer beschützt hatten. Ich habe es selbst gehört. Sie haben sich auf die Barrikade gestellt und zu den Ältesten der Gemeinde gesprochen; bei denen war auch Löb.
Aber ich war ja außerhalb der Barrikade und habe gesehen, wie sich der Pöbel bereithielt. Weißt du, sie haben sich zusammengerottet wie gegen Räuber. Wie gegen Diebe mit Schwertern und mit Stangen sind die Leute vor das Viertel der Juden gezogen, die Gassen waren schwarz vor Menschen. Die Leute waren ausgelassen wie bei einem Volksfest. Es wurde gejohlt, gegrölt und gelacht. Einige führten Fässchen mit Bier und Schnaps auf Karren bei sich. Es wurde gesoffen, gebrüllt und getobt, Schandlieder wurden gesungen. Eine Gruppe schrie immer im Takt: Juden raus! Juden raus! Juden raus!«
Christoph presste sich die Fäuste ins Gesicht.
»Noch schlimmer waren die Frommen, die unter der Anführung von schwarzweißen Mönchen Lieder sangen und Litaneien beteten. Sie führten sogar Fahnen mit Heiligenbildern mit sich.«
»Und weiter?«
»Dann sind die Juden still aus ihren Häusern herausgekommen. Sie hielten sich an den Händen und gingen ruhig, viele sangen oder beteten Psalmen. Familie um Familie kam. Viele weinten leise vor sich hin, nur die Kinder schrien und weinten laut, die Augen weit aufgerissen.
Ich nehme an, dass die meisten wussten, was jetzt kam.
Johlend und jubelnd wurden die Juden von ihren Mitbürgern auf der anderen Seite der Barrikade begrüßt. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten. Wie Tiere haben sie sich auf die armen Menschen gestürzt, die Familien auseinander gerissen, ihnen die Kleider vom Leib gezerrt und nach Geld durchsucht! Es gab Betrunkene, die sich an den Händen gefasst hielten und um die Juden herumtanzten. Straßenjungen schrien Schimpfwörter und spuckten sie an. Faulige Eier flogen, verdorbenes Gemüse prasselte auf sie herunter. Andere schrien auf sie ein und viele ganz entsetzliche Menschen schlugen mit Prügeln und mit Stangen und Latten auf sie los.«
»Und die Familie Löbs?« Christoph weinte.
»Der alte Abraham ging aufrecht und so voller Würde, dass ihn niemand anfasste, es entstand ein freier Raum um ihn. Ähnlich war es mit der alten Esther. Anders war es bei Löb, bei ihm hatten viele Schulden.«
Philo schwieg.
»Esther und Nachum – «
»Ich bin den ganzen schrecklichen Zug auf und ab gegangen, oft und oft, aber ich habe beide nicht gesehen. Ich bin sicher, dass sie nicht dabei waren.«
»Ganz sicher?«
»Ich habe gehört, dass sich einige in der Mikwe, dem Bad tief unter der Erde, versteckt hatten. Aber Männer sind hinabgestiegen und haben sie herausgeholt.«
»Waren Esther und Nachum nicht dabei?«
»Sicher nicht. Ich habe zwar die Menschen, die sich in der Mikwe versteckt hatten, nicht gesehen – es seien vor allem Frauen gewesen –, aber Esther und Nachum waren nicht dabei, ich hätte sie sonst in dem Todeszug wieder sehen müssen. Das ist die Wahrheit.«
Er schwieg.
»Du verschweigst mir etwas.«
»Es gibt etwas, das kann man kaum erzählen. Man schämt sich: Sie haben junge Mädchen und Frauen aus dem Zug herausgeholt und trotz ihres Sträubens in Hauseingänge geschleppt – «
Er schwieg wieder.
»Aber auch sie wurden dann meist umgebracht. Manche haben vielleicht überlebt. Vor allem, wenn sie sich taufen ließen.«
Es war wie in den anderen Städten.
»Kann Esther nicht bei diesen Frauen gewesen sein?«
Sollte man es wünschen?
»Nein. Ich stand zuerst direkt an der Barrikade nicht weit vom Haus der Familie und habe gesehen, wie sie herausgekommen sind. Ich habe den Rabbiner David Walch gesehen, den du kennst, und den Kantor Meiger, den du auch kennst. Auch sie schritten mit großer Würde, dennoch wurden beide beschimpft und sehr misshandelt. Esther und Nachum waren nicht dabei! Auch Rebekka, die Freundin Esthers, habe ich nicht gesehen.«
Er schwieg wieder lange.
»Fast schlimmer als alles andere waren die Frommen mit ihren Fahnen und Litaneien – wie Geier stürzten sie vorwärts, wenn sie einen Säugling sahen, und rissen ihn seiner Mutter aus dem Arm. Sie wollen sie taufen und in Klöstern christlich erziehen. Es gab richtige Kämpfe um die Kinder. Sie halten es für ein gottgefälliges Werk.«
»Und – «
»Das Ende kam nach Stunden voller Quälereien und Gemeinheiten, die man nicht erzählen kann. Wie das Vieh haben sie die armen Menschen nach Rotenkirchen getrieben, dort bei dem Haus der Aussätzigen hatten sie in der Nacht Scheite und Reisigbüschel geschichtet und darüber auf Holzgerüsten Hütten aufgeschlagen. Du kennst das ja alles, wie es aus Basel berichtet worden ist. Sie haben die Juden, Männer, Frauen und Kinder, in die Hütten gesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Als das Feuer aufloderte, krochen manche mit rauchenden Kleidern aus der aufflackernden Glut. Sie wurden vor meinen Augen mit Äxten und Prügeln totgeschlagen.«
Philo weinte.
»Weißt du, es gab sehr viele, die nicht einverstanden waren mit dem, was da geschah – manche weinten. Aber keine Hand hat sich gerührt für die armen Menschen.«
Er schwieg lange.
»Auch ich habe keine Hand gerührt.«
Am Tag darauf verkündigte der Rat, dass alle Schulden an die Juden nichtig seien. Das Geld der Juden werde an die Zünfte verteilt. Aber es gab noch lange Streit darüber, ob die Schulden an die Juden jetzt von der Stadt oder vom Bischof eingetrieben werden durften. Viel von dem Geld der Juden bekamen die schwarzweißen Mönche.